Kultur der Angst

Moderation: Andreas Müller · 09.04.2010
In der Türkei gibt es viel Gewalt von Männern an Frauen, sagt die Soziologin Pinar Selek. Um herauszufinden, woher diese Gewalt rührt, hat sie Interviews mit türkischen Männern geführt und bemerkt: Die Männer haben ständig Angst und erleben selbst permanent Gewalt, besonders während des Militärdienstes.
Andreas Müller: Die türkische Soziologin Pinar Selek hat zu feministischen Themen, zu Geschlechterverhältnissen, Transsexualität und Minderheiten geforscht und publiziert. Ende der 90er-Jahre forschte sie für eine Arbeit zur Kurdenfrage und erregte damit die Aufmerksamkeit der Polizei, wurde verhaftet und gestand unter Folter die Beteiligung an einem Bombenanschlag, der – das wurde rasch klar – keiner war und mit dem sie ohnehin nichts zu tun hatte. Bis heute droht Selek in der Türkei lebenslange Haft.

Längst ist sie in ihrer Heimat zur Symbolfigur geworden für ein nicht wirklich funktionierendes Rechtssystem und dafür, was einem passieren kann, wenn man sich – und sei es nur als Wissenschaftlerin – mit der Kurdenfrage beschäftigt. Inzwischen lebt Pinar Selek im Berliner Exil. Jetzt erscheint in deutscher Sprache ihr neues Buch, "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten". Pinar Selek ist jetzt bei uns im Studio, schönen guten Tag!

Pinar Selek: Merhaba!

Müller: Gender Studies, also die Geschlechterforschung, ist – nachdem zu diesem Thema viele Jahre lang eigentlich nur in den USA gearbeitet wurde – auch hierzulande en vogue. Wie steht es damit eigentlich in der Türkei?

Selek: In den letzten 30 Jahren ist die Geschlechterforschung, besonders eben, was mit Feminismus zu tun hat, hat sich sehr weit entwickelt. Das hat dazu geführt, dass es dann in allen Bereichen, sei es in Bildung, in dem sozialen Bereich und in der Politik, haben sich in diese Richtung ganz viele Veränderungen und Entwicklungen auch entwickelt. Und in den ganzen Akademien, also in dem universitären Bereich, haben sich auch ganz viele Veränderungen etabliert. Seit den letzten acht bis neun Jahren gibt es in fast allen Universitäten einen Lehrstuhl für Gender Studies.

Also auch dadurch, dass ganz viele inzwischen sich mit den Gender Studies beschäftigen und dem Feminismus, es ist nicht nur so, dass es dann an den Universitäten einen Rang hat, sondern vielmehr auch Personen, die sich damit beschäftigen, auch in der Politik aktiv sind. Ich bin auch darüber hinaus Mitglied und auch Redakteurin einer feministischen Zeitschrift, die dann sich nur mit der feministischen Theorie und feministischen Fragen beschäftigt, und es verkauft sich so ungefähr 3000 Mal in der Türkei.

Müller: Kommen wir zu Ihrem Buch, "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten". Dieses Buch geht die Frage der Geschlechter mal nicht von der Warte der Frauenrechte an, das ist eigentlich bislang immer so eher gewesen, sondern dreht den Blick um und nimmt auch die Männer als Geschlecht in den Blick. Es ist ein Umdrehen der klassischen feministischen Perspektive, das auch hierzulande immer wieder mal zu Animositäten führt. Männer stehen meist ungern als Forschungsobjekt da, im Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Wie waren Ihre Erfahrungen beim Sammeln der Daten? Das Buch ist ja im Wesentlichen auf Interviews mit 58 Männern aufgebaut. Wie waren die Erfahrungen bei der Beforschung des türkischen Mannes?

Selek: Ich habe ganz positive Erfahrungen gemacht mit dem Buch, was ich anfangs gar nicht so erwartet habe. In den letzten Jahren, also es ist schon die dritte Auflage in der Türkei, seitdem das Buch erschienen ist, und die nächste ist sogar in Vorbereitung. Und es hat sehr viel Echos in den Medien gegeben und auch ein großes Interesse, und es wurde halt über die Medien sehr kommuniziert.

Die einzige Instanz, die es etwas gestört hat, war natürlich das Militär, weil in dem Buch geht es ja auch um Männer, die ihren Militärdienst machen und dadurch zum Mannsein gedrillt werden. Aber dadurch, dass das Buch so eine große Resonanz bekommen hat, konnten die nicht eingreifen.

Darüber hinaus, dass dann so viele Leute überrascht waren, dass ich so ein Buch geschrieben habe, ist, dass ich eine Herausgeberin und auch Redakteurin von der feministischen Zeitschrift bin und auch eine Feministin bin.

Müller: Ich bin ein bisschen überrascht, also dass es so positiv ankommt, aber das sind natürlich unsere Vorteile von hier aus geguckt, das ist irgendwie klar. Drei Auflagen, eine vierte ist in Vorbereitung. Hat dieses Thema, hat dieses Buch ja vielleicht dann so etwas wie ein Vakuum gefüllt, war es an der Zeit, dass diese Dinge mal angesprochen werden, haben sich vielleicht manche Männer auch endlich mal verstanden gefühlt?

Selek: Also das stimmt, also mit dem, dass Sie meinen, dass es ein Vakuum ist, das entstanden ist und das es zu füllen gibt. Es ist ja auch so, dass Frauen viel lockerer und viel bewusster über ihre Probleme reden können, aber bei den Männern ist es umgekehrt. Also die haben Schwierigkeiten, sich auszudrücken, mit ihren Problemen auch nach außen zu treten und darüber zu reden. Sowohl in der Welt auch in der Türkei gibt es sehr viel Gewalt, männliche Gewalt an Frauen. Und meine Herangehensweise war eben, nach den Gründen dieser männlichen Gewalt zu gucken.

Kritik habe ich auch deswegen bekommen dadurch, dass mir gesagt wurde, dass ich die Männer in Schutz nehme, also den Moment, wo ich die Gewalt erforsche und nach den Gründen, und dass die dann eher als Opfer dargestellt werden. Aber letztendlich ist man auch zu einer Übereinkunft gekommen, dass eben diese Forschung dieser Gewalt auch mit der Hierarchie des Männlichkeitsgeschlechts zu tun hat und dass dann der Hintergrund ja auch ein männliches sozusagen Problem darstellt.

Die Untersuchung hat gezeigt, dass eben diese Gewalt, die aus einer Kraft herkommt, die mit Angst verbunden ist, also dass bei dieser Gewalt ganz viel Angst und auch kein Selbstvertrauen des Mannes in sich verbirgt und dadurch dann eben es zu dieser Gewalt kommt. Und am Ende hat sich gezeigt, dass auch Männer sich verändern können, genauso wie Frauen.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Pinar Selek, die Soziologin hat das Buch "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten" geschrieben. Sie gehen modellhaft von fünf Stationen türkischer Männlichkeit aus. Da ist die Beschneidung, der Militärdienst, der Mann muss Arbeit finden, die Heirat steht an, er wird Vater, natürlich eines Sohnes – was ist die jeweilige Bedeutung dieser Phasen?

Selek: Es gibt eigentlich nicht nur fünf Stationen, es sind nur die Überbegriffe, die ich behandelt habe, unter welcher Perspektive ich die einzelnen sozusagen Stadien beobachten wollte. Und dadurch ist das zustande gekommen. Natürlich gibt es dann mehrere Stationen und mehrere Modelle. Aber im Allgemeinen in der Gesellschaft gibt es fünf Stationen, die dann anerkannt sind auf dem Weg zur Männlichkeit.

Das Erste ist eben die Beschneidung, und die Beschneidung hat ja einen religiösen Hintergrund. Inzwischen ist es aber so, dass sich dann das von dem Religiösen vielmehr weglöst, sondern vielmehr ein Prozess des Manneswerden im Vordergrund steht, also ohne eine be ...

Müller: Initiation.

Selek: Ja, Initiationsritus geworden ist. Und wenn Frauen eben ihre Regel haben oder ihre Tage, da wird nichts gefeiert, also es wird keine Zeremonie und kein großer Aufwand dafür betrieben. Und genau dieser Prozess, Regel ist ja für die Frau, dass sie produktiv wird und gerade dann befähigt ist, auch Leben auf die Welt zu bringen, und das wird nicht gefeiert. Und bei den Männern ist es so, dass sie dann bei der Beschneidung, nur weil sie eine kleine Vorhaut abgeschnitten bekommen, dass man sie feiert und als Könige bekleidet oder als Soldaten und dann eine große Hochzeit für sie veranstaltet wird.

Das, was ich in diesem Ritus beobachtet habe, dass dann eigentlich eine sehr große Angst in diesem Ritus ist, aber das wird versucht, durch die Feier und die Hochzeit dann zu negieren. Und gerade das ist ein Zeichen dafür, dass das dann bei den Männern weitergeht. Die haben dann in jeder Situation oder jeder Station, die ich auch in dem Buch benenne, hinterher das Problem, dass sie Angst haben, aber diese Angst versuchen anders zu bewältigen.

Müller: Er ist eben schon angeklungen, nämlich der Wehrdienst, der Militärdienst. Der löst bei vielen jungen türkischen Männern ja geradezu Panik aus. Man kann sich in der Türkei davon freikaufen, aber die wenigsten haben letztlich das Geld dafür – wer es kann, versucht es, viele jedenfalls –, sich davon freizukaufen. Was ist so entsetzlich daran, an diesem Militärdienst in der Türkei?

Selek: Der Militärdienst ist der Ort, wo am meisten Gewalt ausgeübt wird, aber die, die dahin gehen, können diese Gewalt nicht hinterfragen, sie können sich dem nicht stellen. All die Männer, mit denen ich gesprochen habe über den Militärdienst, haben mit sehr viel Angst darüber geredet, aber auch, dass sie dann ganz viel Gewalt erlitten haben, aber auch darüber so geredet haben, dass es irgendwie ganz normal wäre. Und wenn man dieses thematisiert, eben diese Angst, Gewalt und Repression, dann wird man dafür beschuldigt, dass man eben gegen den Militärdienst was sagt und die Männer dazu aufruft, keinen Militärdienst zu machen. Kritisieren ist verboten.

Müller: Also die werden dort traumatisiert, das ist letztlich ja auch eine Form von Missbrauch, die die Männer dort erleben in dieser Armee, nicht alle wahrscheinlich, aber doch viele. Wird das auch wieder zurück in die Gesellschaft getragen, also eine nicht verarbeitete Gewalterfahrung, führt die dann in der türkischen Gesellschaft womöglich zu einer, ja, Steigerung von Gewalt?

Selek: Der Unterschied ist, wenn sie dann zurückkommen aus dem Militärdienst, dass sie dann das eben verstaatlicht haben, also sie haben dann unter dem Staat gelernt, wie Gehorsam gegenüber dem Staat ist. Also es heißt, unterrichtet vom Staat zu werden, heißt, dass man systematisch gelernt hat, Gewalt auszuüben und sich dann gehorsam gegenüber allem, was über ihnen liegt, zu sein. Ich glaube, dass eigentlich alle Männer hinterher eine psychologische Therapie brauchen, um aus diesem Trauma wieder rauszukommen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Und das ist meine Erfahrung, die ich aus den ganzen Interviews gemacht habe.

Müller: Sie leben derzeit in Berlin, die Gründe habe ich eben genannt. Was beobachten Sie in den Geschlechterverhältnissen in Deutschland? Sind die türkischen Männer hier anders als in der Türkei?

Selek: Ich glaube, dass es stark davon abhängt, in welcher Gesellschaft man lebt, und von der Umgebung und den Situationen. In Deutschland ist ja der Militärdienst obligatorisch, soweit ich das weiß, aber dafür gibt es eben andere Instanzen oder andere Situationen, wo man dasselbe erlebt. Ich bin sehr daran interessiert, auch das herauszufinden, wenn eben andere Mechanismen in anderen Ländern, so wie sie funktionieren für Militär und alles Mögliche sind, wie sie funktionieren und was für eine Veränderung es bei den Männern hervorführt.

Müller: Ja, aber abgesehen vom Militär, also mich würde interessieren tatsächlich, wie sehen Sie die türkischen Männer in Berlin oder überhaupt in Deutschland vielleicht, da ist ja die Türkei eigentlich fern, der Staat ist fern, dem man als Autorität zu gehorchen hat zum Beispiel. Sind die tatsächlich anders oder sind sie vielleicht sogar noch extremer als in der Heimat, weil sie ja im Exil, letztlich auch in der Fremde leben und dort ihre Kultur in irgendeiner Weise bewahren müssen oder wollen?

Selek: Meine Beobachtung ist, dass verstärkt hier die türkischen Männer viel konservativer und viel zurückgebliebener agieren als in der Türkei. Das ist so, als ob sie mit der Zeit stehengeblieben sind, dass sie eigentlich so sind wie 40 Jahre vorher in der Türkei. Hinzu kommt natürlich, dass die Männer auch hier mit dem Minderheitsproblem zu kämpfen haben, dadurch, dass sie Ausländer sind und vielleicht nicht auch gut gestellt sind, einer unteren Schicht angehören und in diesen Bereichen sie sich auch beweisen müssen als ausländischer Mann und natürlich all das, was ich auch vorher gesagt habe.

Einerseits versucht er, an eben dieser Tradition festzuhalten, in der er gebunden ist, also von dem, was ich erzählt habe mit dem 40 Jahre zurückgeblieben zu sein, aber andererseits wird er mit der modernen Realität konfrontiert, und das ist für ihn ein Riesenschlag. Und dann haben wir ja ein Identitätsproblem, eine gebrochene Identität, und wie soll nun der Mann damit zurechtkommen, eben mit dieser halt Zerrissenheit in sich überhaupt. Und die Gewalt ist das einfachste Mittel, um das dann auszudrücken. Ich möchte das aber noch mal betonen, dass eben auch hier unterschiedliche Männertypen herrschen wie auch in der Türkei.

Müller: Das war die Soziologin Pinar Selek, eine der bekanntesten türkischen Feministinnen. Jetzt erscheint ihr neues Buch "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten" auch in deutscher Sprache. Vielen Dank, dass Sie bei uns waren, und ich möchte mich auch bei der Übersetzerin bedanken, das war Sevki Güsez.