Kultur braucht "das technische Wissen"

Jan-Hendrik Olbertz im Gespräch mit Ulrike Timm · 19.03.2012
Der Präsident der Berliner Humboldt-Universität, Jan-Hendrik Olbertz, hat vor einem Bedeutungsverlust der naturwissenschaftlichen Fächer gewarnt. An diesem Punkt stimme er ausdrücklich mit den Autoren des viel diskutierten Buches "Der Kulturinfarkt" überein, sagte er.
Ulrike Timm: Eine Streitschrift sorgt derzeit für viel Wirbel: "Der Kulturinfarkt". Vier Autoren beklagen, es gebe viel zu viel Kultur und überall von allem dasselbe, und überhaupt sollte man die derzeit bestehende Förderung um die Hälfte kappen und die andere Hälfte in ein neues System stecken. So weit, so strittig. Die Tatsache, dass die Autoren sich die Sprache der Wirtschaft so zu eigen gemacht haben, dass für anderes keine Luft bleibt, und ihre Thesen zum Teil auf fragwürdiges Zahlenwerk stützen, mag aber auch davon ablenken, dass einiges Bedenkenswerte im "Kulturinfarkt" steht. Zum Beispiel, dass die Naturwissenschaften und die Technik nicht ausreichend im Blickwinkel stehen und die Universitätslandschaften auch nicht ausreichend prägen.

Über diesen Aspekt, das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften in Ausbildung und öffentlicher Wahrnehmung, möchte ich nun sprechen mit dem Präsidenten der Humboldt-Universität zu Berlin, mit Jan-Hendrik Olbertz. Guten Tag, ich grüße Sie!

Jan-Hendrik Olbertz: Guten Tag, ich grüße Sie auch!

Timm: Herr Olbertz, wenn man mal schlicht in den Stellenteil für Akademiker guckt, dann findet man bestätigt, dass Naturwissenschaftler und Ingenieure dringend gesucht und dringend gebraucht werden. Müssen die Unis da also nachbessern, was die Ausbildung betrifft?

Olbertz: Ja, das müssen sie schon. Wobei ich diese Erwartung auch an die Schulen adressieren würde. Denn eines der Hauptprobleme ist, dass die naturwissenschaftlich-technischen Talente in den Schulen nicht ausreichend entdeckt und ermutigt werden, sodass sehr viele Studienentscheidungen schon ausweichend in Richtung der weicheren Fächer, Sozial- und Geisteswissenschaften, getroffen werden und manch ein Talent, das Brücken konstruieren, Schiffe bauen oder elektronische Apparaturen konstruieren könnte, auf der Strecke bleibt.

Timm: Damit spielen Sie den Ball aber so elegant zurück, dass das eigentlich nicht reichen könnte!

Olbertz: Nein, es ist ohnehin ein Kooperationsprojekt, was ich da im Auge habe. Wir sagen ja dazu MINT, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften. Diese Fächer zu fördern, bedeutet natürlich auch, zwischen Schule und Universität eine Brücke zu bauen. Das heißt also, frühzeitig zum Beispiel über Schüleruniversitäten oder Frühstudium oder andere Möglichkeiten, die bis in die Lehrerbildung reichen, junge Leute für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer aufzuschließen, zu interessieren und ihnen aber auch den Mut zu machen. Die schrecken im Moment zurück, weil sie glauben, dass sie die mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen nicht wirklich beherrschen würden.

Das liegt auch an der Stofffülle der Schulen, an dem ganzen Modus, der an der Neugier vorbeigeht, hin zu formalem Lernen von Dingen, deren Relevanz man nicht erkennt in der Schule und dann vorsorglich ausweicht, denn am Ende zählt Erfolg. Und da müssen Universitäten und Schulen, glaube ich, einfach auch zusammenarbeiten, um diesen Übergang in ein Interessengebiet der Mathematik und der Naturwissenschaften auch meistern zu können.

Timm: Bleiben wir jetzt mal bei Ihrem Spielfeld, bei der Universität. Sie, Herr Olbertz, haben kürzlich gesagt, an Ihrer Uni würden tatsächlich vor allem neue Studienplätze im Bereich der Geisteswissenschaften entstehen, weniger in den MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Ist denn das nicht die falsche Reaktion?

Olbertz: Nein, das hatte einen anderen Grund, dass ich das damals gesagt habe: Wir haben damals gesprochen über die gesteigerte Studiennachfrage insgesamt, die teilweise demografische Gründe hat, teilweise mit den Doppelabitura in den einzelnen Ländern zusammenhängt. Und da hatte ich eher beklagt, dass wir, wenn wir wesentlich mehr Studienplätze schaffen müssen, dann natürlich diejenigen schaffen, die nicht so kostenintensiv sind. Und das befördert einen Drive hin zu den Geisteswissenschaften, den ich eher kritisch reflektiert habe.

Wir haben keine andere Wahl, weil uns das Geld fehlt. Für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Studienplätze brauchen wir Ausstattung, Laborkapazität und vieles mehr. Und wenn dieser Studentenberg temporär ist – was alle vermuten –, vielleicht die nächsten zehn Jahre noch anhalten wird, muss man überlegen, was kann man investieren und was nicht. Das war also eher eine Sorge, dass diese Schere noch weiter aufgeht, über die wir heute sprechen wollen. Also, die Schere zwischen Geistes- und Naturwissenschaft.

Timm: Das heißt also, die Kostenfrage, dass ein Labor teurer ist als ein Arbeitsplatz mit Büchern oder mit Computer ...

Olbertz: ... das ist so ...

Timm: ... diese Kostenfrage führt dann dazu, dass man in eine falsche Richtung einschlägt?

Olbertz: Ja, das ist ganz klar meine Kritik. Wir gehen im Moment den leichten Weg. Gleichzeitig ist er alternativlos, weil unsere Budgets nicht reichen. Es ist in einer juristischen Grundlagenvorlesung nicht so maßgeblich wichtig, ob sie dort 320 oder 360 Studenten sitzen haben. In einem Labor mit Praktikumsphasen und allem Drum und Dran sind Sie zum Beispiel auf die Zahl 12 festgelegt, weil wir genau 12 Arbeitsplätze im Laboratorium haben, da können Sie nicht die gesteigerte Studiennachfrage befriedigen an diesem Ort. Und das ist eben meine Sorge, dass wir einen Trend noch forcieren, der uns eigentlich Sorge machen sollte. Und das ist der Trend weg von den Natur- und Technikwissenschaften.

Timm: Herr Olbertz, wer auf seine literarische Bildung hält, aber keine Ahnung hat, wie der Strom aus der Steckdose kommt, wem also die elementarsten Grundbegriffe einer technischen Bildung fehlen, der gilt ja trotzdem was, das ist wohl kein übertriebenes Beispiel. Stimmt das, dass wir schlicht einen verkürzten Bildungsbegriff haben? Wie sehen Sie das?

Olbertz: Ja, das haben wir auf jeden Fall. Also, ich habe ja selber immer wieder gesagt: Für mich ist Bildung an sich schon kulturelle Bildung. Und es ist ohne Wissen, und zwar auch ohne elementares Wissen um die Zusammenhänge der Natur und am Ende eben auch der Technik, der Zahlen und so weiter, kann ich von Bildung nicht reden. Für mich ist es, und da stimme ich mit den Autoren dieses Buches "Kulturinfarkt" überein – an anderen Stellen übrigens nicht, aber an dieser Stelle ausdrücklich –, dass ein Kulturbegriff, der das Wissen ausblendet und auch das technische Wissen und das Naturwissen eigentlich kein ordentlicher Kulturbegriff sein kann.

Für mich liegt die Inspiration der Kultur ganz klar auch im Wissen über die elementaren Dinge, die unsere Welt in der Natur und in der Technik und in der Physik und in der Mathematik ausmachen. Da ist ja auch ein enormes Potenzial an Inspiration für Kunst und Kultur drin. Und es wird immer dort spannend, wo Wissenschaft und Kunst in ihrer ursprünglichen Synthese zusammenarbeiten.

Timm: Meint Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin, im Gespräch über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften hier im "Radiofeuilleton". Herr Olbertz, der typische Studienabbrecher der 70er- und der 80er-Jahre, das war der freundliche Kellner im 16. Semester Germanistik oder Philosophie. Jetzt sind die Abbrecherquoten in den geisteswissenschaftlichen Fächern zurückgegangen, in den naturwissenschaftlichen sind sie gestiegen, und beides unerwartet deutlich. Woran liegt das?

Olbertz: Kann ich Ihnen auch nicht ganz genau sagen. Man muss auch ein bisschen vorsichtig sein: Abbrecher beenden nicht ihr Studium, sondern in aller Regel, der allerallergrößte Anteil von ihnen wechselt in eine andere Studienrichtung. Das ist zwar auch eine Kapitulation, aber wenn Sie so wollen, eine Teilkapitulation, und die zeigt ja auch, dass die jungen Leute in der Universität dann endlich herausfinden, wo ihre Stärken, ihre Neigungen, ihre Interessen und ihre Neugier liegen. Das kann man also auch als positives Zeichen sehen. Nur, dieser Prozess, der läuft zu spät und zieht sich zu sehr in die Länge. Und dann haben wir eben diese Quote von Studienfachwechslern.

Ich kann Ihnen schwer sagen, woran das liegt. Es sind eben verfehlte Erwartungen, unklare Vorstellungen und möglicherweise auch Betreuungsprobleme an der Universität selbst, dass die Krise, die immer am Anfang den Start bildet, dann eben nicht gemeistert wird. Vielleicht auch durch zu viel Ungeduld, durch zu wenig Stärkung des Selbstvertrauens der jungen Leute, dass sie dann eben aufgeben und auf Nummer sicher gehen. Es geht natürlich auch um das Bedürfnis, sich abzusichern gegen Misserfolg. Und da ist die Versuchung groß, ein vermeintlich leichteres Fach zu wählen.

Timm: Herr Olbertz, lassen Sie uns noch mal über einen anderen interessanten Aspekt sprechen, nämlich über Schnittstellen: Physiker und Mathematiker, die verstehen ihr Fach ja sehr oft auch als ein philosophisches. Trotzdem scheint die Welt von Natur- und Geisteswissenschaft meist sehr hermetisch abgeriegelt. Gibt es echte Schnittstellen, die man auch fördern sollte vonseiten der Uni?

Olbertz: Ja, die gibt es inzwischen. Also, wir haben an der Humboldt-Universität zum Beispiel so ein Exzellenzcluster, das heißt Bild, Wissen, Gestaltung. Da verrät ja schon der Name, dass es um bildgebende Verfahren auch in den Naturwissenschaften geht, in denen man zum Beispiel guckt, was ein MRT-Ausdruck, also ein Magnetresonanztomograf, ein solcher Ausdruck, der in Gestalt eines Bildes kommt, was für eine Ikonografie wir kulturell eigentlich haben, wenn wir so ein Bild betrachten. Das betrachtet der Arzt mit anderen Augen als ein Künstler.

Wenn die sich aber verständigen, wird ihnen klar, dass solche technischen Bilder eine enorme kulturelle Wirkkraft haben und im Übrigen auch in den Wahrnehmungsmechanismen so eine kulturelle Konnotation. Und darüber zu reden und plötzlich viel mehr zu sehen, als man mit den engen Fachblicken der eigenen Disziplin sieht, das ist natürlich sehr inspirierend. Solche Sachen machen wir schon. Ich bin auch dagegen, diese Unterschiede zu nivellieren. Also, es kann nicht alles gleichgebügelt sein. Die Vielfalt unserer Fächer, Disziplinen und auch Fachkulturen ist der Reichtum der Wissenschaft, nicht ihr Risiko.

Timm: Die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften ist ja auch eine Entwicklung der modernen Zeit. Schauen wir ins 18. Jahrhundert: Ein Goethe – und nicht nur der – war ziemlich up to date, was die technischen Entwicklungen seiner Zeit angeht. Das ist schlicht verloren gegangen! Könnte man nicht auch einen Literaturwissenschaftler für ein starkes Beifach Physik begeistern, wenn man solch eine Bildung für selbstverständlicher halten würde?

Olbertz: Ja, das klingt gut und man will das erst mal bejahen. Auf der anderen Seite ist allerdings die fachliche Dichte und das Spezialisierungserfordernis, was auch aus den Berufen erwächst, die anschließend ausgeübt werden sollen, das steht ein bisschen dagegen. Ich denke aber schon, dass Sie recht haben, dass man die Begegnung mit anderen Fachkulturen und interdisziplinäre Zugänge in einem Studium unbedingt braucht. Schon um zu lernen, wie man eigene Wahrnehmung relativiert, wie man sich durch andere Wahrnehmungsweisen und Methoden inspirieren lässt und vieles mehr.

Nur, man muss immer eins sagen: Interdisziplinarität funktioniert nur auf der Basis von Disziplinarität. Das heißt, es wird nur dann spannend, wenn Fachleute sich begegnen. Die brauchen aber ein Fach. Das heißt, wer Fächergrenzen überwinden will, muss als Erstes lernen, wie man welche zieht. Insofern muss man tatsächlich versuchen, beides irgendwie zu machen, in einer vernünftigen Schrittfolge an der Universität. Und spätestens im Masterstudium muss die Fähigkeit zum interdisziplinären Agieren auch eingeübt sein. Aber wie gesagt: Auf der Basis von etwas Speziellem, was man repräsentieren muss, sonst ist man in keinem interdisziplinären Zirkel interessant.

Timm: Jan-Hendrik Olbertz, der Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin, im Gespräch mit dem "Radiofeuilleton". Ich danke Ihnen!

Olbertz: Ich danke Ihnen auch!

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