Kult der Siege und Rekorde

Von Michael Böhm |
Statt der eigentlichen Akteure dirigieren heute Trainer die Spiele und Rennen, unterstützt von Psychologen, Masseuren und persönlichen Fitnesscoaches, die nur danach trachten, Risiken und Ungewissheiten zu eliminieren – und Gewinne zu maximieren, meint Michael Böhm.
Sport hat keinen materiellen Nutzen, keinen praktischen Sinn. Er befriedigt das Bedürfnis nach freier Fantasie und kindlichem Spiel – und er symbolisiert das unbändige Verlangen des Menschen, Hindernisse zu überwinden, ihnen zum Trotz weiter zu leben. Athleten im Wettkampf demonstrieren nicht nur die menschliche Fähigkeit, andere oder die Natur zu besiegen, sondern auch sich selbst. Und da wir, die Zuschauer, so etwas gewöhnlich nicht erleben, begeistern wir uns dafür. Der Sport ähnelt damit der Literatur, der Kunst: Er zeichnet außergewöhnliche Situationen nach, deren Ausgang unbestimmt ist. Und das bewirkt in uns eine emotionale Anteilnahme. Sport ist dem Alltag enthoben, wo Kalkül und Berechnung vorherrschen; er zeigt ein reicheres, intensiveres Leben, ist seine konzentrierte Form.

Die Tour de France hingegen fährt schon seit Langem ihrem sportlichen Tod entgegen und das auch ohne EPO und Testosteron. Weil in ihr die Poesie des Sports verschwindet, versachlicht, vernutzt wird; weil seine Symbolik verloren geht – so wie bei anderen sportlichen Großereignissen auch.

Die Kommerzialisierung des Sports führte seit den 1960er-Jahren zu einem Kult der Siege und Rekorde, begleitet vom Prinzip des "schneller, höher, weiter", befördert von steigenden Startsummen, Preisgeldern und Werbeeinnahmen. Athleten, die einst für Angestelltenlöhne ihrem Sport nachgingen, wurden so zu Spitzenverdienern mit Managergehältern. So geht es heute einzig allein um den Sieg, ganz gleich wie er zustande kommt. Bei der Tour de France unternehmen Spitzenfahrer schon seit Langem keine faszinierenden Ausreissversuche mehr, wie es in den 1950er und 1960er-Jahren Bartali und Coppi taten. Diese fürchteten nie, ein Rennen dadurch zu verlieren, dass sie sich in einen Alleingang stürzten, der vielleicht zum Scheitern verurteilt war.

Stattdessen sind die Contadors, Schlecks und Evans von heute darauf bedacht, ihre Gegner in den Bergen zu kontrollieren, um den Rest der Arbeit im Kampf gegen die Uhr zu erledigen. Ähnliches zeigt sich auch auf dem Rasen: Begeisterten noch in den 1970er-Jahren Spieler wie Johann Cruyff und Ruud Krol mit "totalem Fußball", bei dem ein jeder verteidigte, im Mittelfeld spielte und angriff, dominieren seit den 1980er-Jahren, ballsichere Viererketten und ängstliche Taktiken im "5-3-2" oder "4-5-1" System. Es gibt kaum noch Mannschaften, die heroisch verteidigen, dafür um so mehr solche, die das Spiel des Gegners zerstören, um seinen Sieg zu verhindern. Und statt der eigentlichen Akteure dirigieren heute Trainer die Spiele und Rennen, unterstützt von Scharen von Psychologen, Masseuren und persönlichen Fitnesscoaches, die nur danach trachten, wie im normalen Leben, Risiken und Ungewissheiten zu eliminieren und – Gewinne zu maximieren: Startsummen, Preisgelder, Werbeeinnahmen.


Damit beraubt sich der Sport seiner ästhetischen Dimension, die er im alten Griechenland besaß, als sich Athleten um Rekorde und mehr Geld nicht scherten und bar aller Gedanken an Sinn und Zweck, die Existenz bereicherten, auch ihre tragische Seite erfahrbar machten: Zeigten, dass die Dinge des Lebens unschuldig und ambivalent sind, dass Richtiges und Falsches, Sieg und Niederlage, Lachen und Weinen in tiefer Solidarität zueinander stehen – und dass die Realität so immer Grund zu Begeisterung gibt, weil alles eine Frage der Perspektive ist.

Das Doping (Wann beginnt es eigentlich?) ist daher nicht Ursache der Krankheit des Sports, sondern allenfalls eines ihrer Symptome. Es erhöht nicht nur die Leistungsfähigkeit der Athleten, es erspart ihnen auch einen Teil der Leiden. Gedopte Fahrer sind am Ende nicht nur schneller als andere, sondern haben auch weniger schmerzverzerrte Gesichter und einen längeren Atem. Für die Zuschauer ist es so unmöglich, den Athleten als einen der ihren zu begreifen und die Symbolik des Sports zu empfinden. Doping schafft eine zusätzliche Distanz zwischen dem Sportler und denen, die ihn bewundern. So überschlugen sich fast die Stimmen der Reporter früherer Jahre, als Fahrer wie Poulidor oder Merckx mit hohlen Augen und offenen Mündern ins Ziel fuhren, erhob sich Jubel, als sei ein Tor beim Fußball gefallen; heute registrieren Berichterstatter fast sachlich, wenn die Fahrer lächelnd, vor Kraft strotzend die Ziellinie passieren, umhüllt vom Applaus der Zuschauer, der sich kaum von dem auf der Strecke unterscheidet.

Michael Böhm, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaft in Berlin und Lille und lebt als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften, so unter anderem für "Du – Das europäische Kulturmagazin". Letzte Buchveröffentlichung: "Alain de Benoist – Denker der Nouvelle Droite".
Michael Böhm
Michael Böhm© privat