Kuhnle: Norwegen hat seine Unschuld verloren

Stein Kuhnle im Gespräch mit Dieter Kassel · 25.07.2011
Norwegen habe sich von einem homogenen zu einem Einwanderungsland mit verschiedenen Ethnien und Religionen verändert, sagt der Politikwissenschaftler Stein Kuhnle, der in Bergen und Berlin unterrichtet. Manche sähen darum den Wohlfahrtsstaat in Gefahr.
Dieter Kassel: Diese Anschläge werden Norwegen verändern. Es wird ein Norwegen geben vor den Anschlägen und ein Norwegen nach den Anschlägen, so sagte es Ministerpräsident Jens Stoltenberg gestern Mittag bei der Trauerfeier für die mehr als 90 Opfer der beiden Taten, die, wie wir ja inzwischen wissen, ein einzelner, offenbar geistig verwirrter, rechtsradikaler Mann begangen hat. Wie dieses Norwegen vor und nach den Anschlägen ausgesehen hat und aussehen wird und wie es überhaupt so weit kommen konnte, das wollen wir versuchen, nicht zu klären, aber zumindest zu besprechen mit Stein Kuhnle. Er ist Politikwissenschaftler, unterrichtet an der Universität in Bergen, in Norwegen, und auch an der Hertie School of Governance in Berlin. Und hier in Berlin ist er Professor für Comparative Social Policy, also so in etwa übersetzt Vergleichende Sozialpolitik. Schönen guten Morgen, Professor Kuhnle!

Stein Kuhnle: Guten Morgen!

Kassel: Als Sie das am Freitagnachmittag, Freitagabend erfahren haben, was in Oslo und in der Nähe von Oslo passiert ist, was waren da Ihre ersten Gedanken?

Kuhnle: Ja, ich war am Freitag in Ungarn, hatte gerade eine Vorlesung für eine Gruppe internationaler Studenten gehalten an einer Sommerschule, dort habe ich auch über die stabilen, friedlichen skandinavischen Wohlfahrtsstaaten geredet, und ich bin dann in ein Internetcafé gegangen, um E-Mails und Nachrichten zu checken. Das war nur eine halbe Stunde nach dem Bombenattentat in Oslo, ich habe die grausamen Bilder von Oslo-Zentrum gesehen, das war wirklich unwirklich. Ich rief meine Familie in Bergen an, die hatte bis jetzt die Nachricht nicht bekommen, bald kamen Reaktionen auf Facebook. Wir wussten da nicht, was passiert war, ob es eine Bombe war oder nicht. Drei Stunden später bekamen wir alle den zweiten Schock vom Massaker auf der Utoya-Insel, die am frühen Samstagmorgen eine Riesenkatastrophe geworden war. Ich war da im Hotel in Ungarn, verfolgte die BBC World News und ich begann zu weinen.

Kassel: Als Sie dann, wir haben ja alle gedacht oder Sie haben das ja auch gehört, im Internet gelesen, der erste Verdacht war ja, dass das ein islamistisches Attentat gewesen sein könnte in Oslo, im Regierungsviertel. Als Sie dann Freitagabend, Samstagmorgen die Wahrheit erfahren haben, oder das, was wir bis heute für die Wahrheit halten, dass es dieser einzelne, verrückte Mann war, was haben Sie sich da gedacht?

Kuhnle: Ja, ich muss ehrlich zugeben, wir haben alle an vielleicht radikal-islamistische Gruppen gedacht, über diese Möglichkeit haben wir in Norwegen wie sonst in Skandinavien und Europa gesprochen, aber nie über eine solche Gefahr von innen. Der Anschlag ist auch einzigartig, denn der Täter – vermutlich ein psychopathischer Einzeltäter – hat gleichzeitig versucht, die Regierung und zentrale Staatsadministration außer Gefecht zu setzen und auch die künftige Generation sozialdemokratischer Leiter und Politiker zu ermorden. Das ist alles wirklich unfassbar.

Kassel: Der Mann war Einzeltäter, war sicherlich geistig gestört, aber andererseits, Sie haben ja erwähnt, Sie haben auch in Ungarn wieder über den friedlichen, modernen Sozialstaat Nordeuropas – Norwegen das beste Beispiel, weil auch der reichste der drei oder vier, die man da meinen kann – gesprochen. Andererseits, es gibt in Norwegen schon seit 1973 die Fortschrittspartei, und die hat eigentlich, seit sie existiert, bei jeden Wahlen immer besser abgeschnitten als bei der Wahl zuvor, 2009 hat sie fast 23 Prozent der Stimmen bekommen. Experten sagen, auch nach fast 40 Jahren Existenz ist das immer noch eine Protestpartei. Wenn das stimmt, gegen was wollen denn die Menschen protestieren, die diese Partei wählen?

Kuhnle: Ja, es gibt ein bisschen Fremdenfeindlichkeit und Angst vor vielleicht Überfremdung und zu vielen Immigranten von außerhalb Europas. Ich glaube, es gibt verschiedene, auch wie in anderen europäischen Ländern, verschiedene Ursachen für diese Situation. Norwegen hat eine kleine Bevölkerung, knapp fünf Millionen Einwohner, und das Land war immer ein sehr homogenes Land, ethnisch, religiös und kulturell gesehen. Dann kann es vielleicht zu sozialen und kulturellen Spannungen kommen, wenn das Land in kurzer Zeit viele Immigranten und Asylanten von fremden Kulturen empfangen hat. Aber eine andere Ursache könnte sein, dass manche eine Gefahr für ihre künftige Wohlfahrt sehen. Das ist nach meiner Meinung falsch, aber obwohl unser Wohlfahrts- und Sozialstaat im internationalen Vergleich sehr entwickelt ist, erleben manche Wähler immer noch Probleme im Bezug auf Gesundheitswesen und soziale Dienstleistungen und denken, dass Immigranten zu leicht zu sozialen Rechten kommen.

Kassel: Nun ist es ja so, dass man in anderen Ländern, auch in Deutschland, wenn es da rechtspopulistische oder rechtsradikale Strömungen gibt, das immer erklärt mit tatsächlich schwierigen sozialen Verhältnissen, vernachlässigte Gruppen, Menschen, die wirklich kein Geld haben, die keine Zukunft haben, keine Bildung. Man hat immer die Vorstellung, so was gibt es in Norwegen doch eigentlich gar nicht?

Kuhnle: Wir haben wenig Armut, es ist eine ganz egalitäre Gesellschaft und ja, es gibt viel Wohlstand. Aber alle möchten es immer etwas besser haben und ich glaube, der Wohlfahrtstaat ist immer unter Kritik und alle Wähler möchten mehr Wohlfahrt haben. Ich weiß nicht, aber ich glaube, Fremdenfeindlichkeit ist meistens eine Frage der kulturellen Angst. Aber ich möchte auch sagen, die Integration von Immigranten ist in Norwegen nicht so problematisch, wie es oft in den Medien präsentiert wird. Die Medien können vielleicht auch mehr über erfolgreiche Integration berichten, nicht nur über Probleme.

Kassel: Das heißt, es ist auch in Norwegen tatsächlich, dass auch in den Medien regelmäßig über Probleme mit Integration berichtet wird?

Kuhnle: Ja, das ist ... Ich glaube, das ist in den Medien überall. Aber es ist nicht so schlecht in Norwegen, die Integration. Und ich möchte auch sagen, ich glaube, die Fortschrittspartei ist nicht rechtsextremistisch. Also, das ist eine populistische Partei und hat viele, viele Wähler von sozialdemokratischem Hintergrund bekommen, und die rechtsextreme Szene ist eine kleine in Norwegen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute Vormittag mit dem Politikwissenschaftler Stein Kuhnle, er ist Norweger und unterrichtet sowohl in Bergen als auch in Berlin an Universitäten. Und ich würde gerne mit Ihnen noch über eine sehr spezielle Szene reden, die in Norwegen vor allen Dingen in den 1990er-Jahren sehr stark gewesen ist, die Black-Metal-Musikszene. Es gibt heute auch Zeitungen in Deutschland, die da einen Zusammenhang herstellen, der Berliner "Tagesspiegel" tut das zum Beispiel und andere auch. Das ist nun ausgerechnet in Norwegen, und zwar wirklich dort – in Schweden, Dänemark, Nachbarländer, war das sehr viel schwächer – eine sehr nihilistische, sehr, fast schon in Zügen satanistische Musikszene gewesen. Mindestens einen Mord aus dieser Musikszene heraus hat es gegeben, dazu noch einen ziemlich bestialischen Selbstmord. Das ist schwächer geworden, hat nachgelassen, aber haben Sie eine Erklärung dafür, warum es – da sind wir beim gleichen Thema – in einem so friedlichen, eigentlich zufriedenen Land so eine Szene zum Beispiel gab?

Kuhnle: Ich glaube, das ist sehr schwer zu erklären. Ich weiß auch nicht, ob es wirklich eine besondere norwegische oder skandinavische extremistische Tradition gibt, ich weiß nichts über diesen Black Metal und ähnliche Gruppen. Aber diesmal sieht es so aus, dass es sich um einen verrückten Einzeltäter handelt, der auch Ideen von außen und von ähnlichen Terroranschlägen bekommen hat. Ich glaube, niemand kann solche Handlungen voraussagen. Man kann vielleicht darüber spekulieren, ob eine stark homogene, egalitäre Gesellschaft Personen mit existenziellen Problemen der einen oder anderen Art unter Druck setzt und extreme Handlungen anstellt, ich weiß nicht. Ich bin nur ein Politikwissenschaftler, vielleicht wäre es besser, hier einen Soziologen oder am besten einen Psychiater zu fragen, ich weiß nicht.

Kassel: Aber wenn Sie selber ja, das merke ich ja und das kann ich auch gut verstehen, doch auch sowohl entsetzt als auch total überrascht sind von so einem Ereignis in Norwegen, ist es vielleicht so gewesen ... Wir hören ja viel über diese Sicherheitsberichte der Behörden, die auch letztes Jahr noch gesagt haben, sie erwarten weder irgendeine Gefahr aus der rechten, noch aus der linken, noch aus der islamistischen Szene. Ist es auch so gewesen, dass man vielleicht überhaupt diese Möglichkeit, dass es so etwas geben könnte, auch völlig unterschätzt hat in Norwegen?

Kuhnle: Ja, ich glaube, es könnte unterschätzt worden sein, aber ich glaube, es ist sehr, sehr schwierig, gegen solche Psychopathen sich zu wehren ...

Kassel: ... man kann gegen Einzeltäter, glaube ich, nirgendwo auf der Welt eine absolute Sicherheit haben. Aber kommen wir zu dieser Kernfrage: Stoltenberg hat gestern gesagt, es wird ein Norwegen geben vor den Anschlägen und eins nach den Anschlägen. Was kann denn das heißen, wie wird denn jetzt möglicherweise dieses Norwegen nach den Anschlägen aussehen?

Kuhnle: Ja, ich glaube, Stoltenberg hat recht. Also Norwegen hat sozusagen einen Teil seiner Unschuld verloren. Das Ereignis wird gewiss eine Dauerwirkung auf alle Norweger haben, besonders auf die junge Generation von heute. In dem Sinne ist dann ein Vergleich mit 9/11 möglich. Aber sonst ist die politische Kultur Norwegens unterschiedlich von der Kultur der Vereinigten Staaten. Norwegen ist weniger polarisiert, mehr konsensfähig, mehr solidarisch und die politische Kultur mehr besonnen, würde ich sagen. Es gibt ein hohes Vertrauen an demokratische politische Institutionen, ich glaube, diese Situation wird sich nicht ändern.

Kassel: Danke Ihnen sehr für das Gespräch! Das war Professor Stein Kuhnle, er unterrichtet an der Universität in Bergen und an der Hertie School of Governance in Berlin Politikwissenschaften.

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