Künstlerisches Tun als soziales Handeln

06.08.2012
Ingo Schulze hat seine Dresdner Rede vom Februar 2012 zu einem kleinen Prosaband ausgebaut. Darin fordert er "demokratiekonforme Märkte" anstelle von Angela Merkels "marktkonformer Demokratie" und seziert die innere Verfasstheit unserer Gesellschaft anhand des Märchens von des Kaisers neuen Kleidern.
Ingo Schulze ist einer der produktivsten deutschen Schriftsteller. Abgesehen von der längeren Pause um die Jahrtausendwende legt er seit seinem Debüt von 1995, "33 Augenblicke des Glücks", alle paar Jahre einen neuen Prosaband vor, entweder einen Roman oder Erzählungen. Das meiste davon ist in viele Sprachen übersetzt, weshalb er mit und ohne Einladung von "Goethe" auch oft im Ausland ist - zu Lesungen, Diskussionen oder längeren Arbeitsaufenthalten.

Ingo Schulze ist auch einer unserer "meist-bepreisten" Schriftsteller, das heißt: einer der meist-befragten und eigentlich immer irgendwo "im Gespräch". Mag sein, dass es hierzulande die Figur des öffentlichen Intellektuellen wie in England, Frankreich, Italien, Spanien nicht (mehr) gibt. Aber es gibt zum Glück (wieder) Schriftsteller - beiderlei Geschlechts selbstverständlich -, die ihr künstlerisches Tun immer auch als soziales Handeln verstehen, die sich und ihre Werke nicht ohne politische Verantwortung denken können noch wollen, und die sich deshalb nicht zu fein sind, in öffentliche Debatten einzugreifen oder sie zu initiieren.

Ingo Schulze gehört dazu. Er hat zwischen den Prosabänden immer wieder Artikel und Essays geschrieben, Reden und Vorlesungen gehalten, an Konferenzen teilgenommen und einiges davon später in Buchform herausgebracht. Er gehört außerdem zu den treuesten Autoren, was die gute alte Bindung von Autoren an "ihren" Verlag betrifft. Verlage, die umgekehrt ihre Autoren getreulich pflegen, sind rar geworden seit den Buchmarktumwälzungen der letzten 20, 30 Jahre. Ingo Schulze hatte so einen. Und ging selbstverständlich mit, als "seine" Verlegerin - salopp gesagt - die Hausadresse wechseln musste.

Warum die lange Vorrede? Weil sie vielleicht die angesichts des jüngsten Schulze-Bändchens skeptisch gerunzelte Stirn etwas glätten kann. "Unsere schönen neuen Kleider" - das ist doch des Autors Dresdner Rede vom Februar 2012? Nachlesbar im Internet, auch auf Schulzes Homepage. In dieser Rede hatte er Angela Merkels fatale Floskel von der "marktkonformen Demokratie" mit der Forderung nach "demokratiekonformen Märkten" konterkariert und die kaputte, weil auf organisierter Lüge basierende, innere Verfasstheit unserer Gesellschaft anhand von Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider" seziert.

Warum soll man das jetzt noch einmal in Buchform lesen? Weil es sich lohnt. Schulze hat den Text nicht nur stilistisch geputzt, sondern auch ausgebaut. Hat ein paar "Kaiser-Kleider-Ideologen" mehr enttarnt, Sarrazin etwa, und ein paar angerissene Gedanken weiter gedacht.

Vor allem aber hat er den Zoom in Richtung Europa aufgezogen, aufgrund eines gar nicht kollateralen Schadens, den er in einem langen Vorwort skizziert: des seit "Der Krise" wieder grassierenden nationalen Ressentiments. In Portugal ist er plötzlich nur noch "Der Deutsche". Nach demselben Muster war er jahrelang "Der Ostdeutsche". Diese Art der Reduzierung bringt ihn auf ein paar kluge Überlegungen für eine Repolitisierung der öffentlichen Debatte. Sie alle haben zu tun damit, dass die Bürger sich selbst (wieder) ernst nehmen und den Mund aufmachen. Gerade wenn etwas so evident schief läuft, dass alle es sehen.

Besprochen von Pieke Biermann

Ingo Schulze: "Unsere schönen neuen Kleider: Gegen die marktkonforme Demokratie - für demokratiekonforme Märkte"
Hanser Berlin, Berlin 2012,
80 Seiten, 10,00 Euro
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