Künstlerisches Naturgespür

Siegfried Forster |
Der französische Dichter Guillaume Apollinaire bezweifelte einst, dass der Schweizer Maler Ferdinand Hodler in Frankreich jemals geschätzt werden wird. Jetzt kommt er offenbar doch noch zu Ehren. Im Pariser Musée d’Orsay ist dieser Tage eine Ausstellung mit Werken des 1918 in Genf gestorbenen Berners zu sehen.
"Emotionen", bei der Begegnung mit Ferdinand Hodler erwarten uns zu allererst "Gefühle". So lautet der Titel des riesigen Öl-Gemäldes, das gleich am Eingang
prangt: vier schreitende Frauengestalten, zur Seite geneigt, mit irritierend heller Haut und himmelblauen Gewändern, von Figur zu Figur mehr entblößt: modernes Striptease oder gefühlsschwangere Allegorie des Schweizer Symbolisten? Frage an Kuratorin Sylvie Patry:

"Ja, in manchen Gemälden Hodlers gibt es einen erotischen Aspekt. Aber hier ist das Spiel zwischen den nackten und bedeckten Körperteilen eher auf die Bewegung bezogen. Die Stoffe sollen die Bewegung auf bestimmte Weise wiedergeben. Das ist die wesentliche Rolle zwischen diesen nackten bedeckten Körperteilen – Ausdruck der Bewegung."

Ferdinand Hodler war 1853 als Kinder einer armen Arbeiterfamilie in Bern auf die Welt gekommen. Im Alter von 14 war er Waisenkind und Lehrling beim Bergmaler Ferdinand Sommer. Ein künstlerisches Naturgespür war erwacht, das ihn nie mehr verlassen und die moderne Kunst zu neuen Gefilden führen sollte.
Hodler – im Bewusstsein der Menschen – wieder in den Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens Anfang des 20. Jahrhunderts zu rücken, hat sich die Ausstellung im Musée d’Orsay vorgenommen, bekräftigt Sylvie Patry:

"Hodler wurde zu Lebzeiten als einer der ganz großen Maler Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts angesehen. Er wurde mit Künstlern verglichen wie Rodin, Puvis de Chavanne, Gustav Klimt. Nach dem Ersten Weltkrieg ist Hodler etwas in Vergessenheit geraten – vor allem in Frankreich, auch etwas in Deutschland und Österreich. In der Schweiz galt er immer als ganz großer Maler. Aber in Europa allgemein hatte man etwas vergessen, welchen Platz Hodler eingenommen hatte."

Die Gründe waren vielfältig: bereits 1914 hatte Hodler in einem Aufruf gegen die Bombardierung der Kathedrale von Reims durch die Deutschen protestiert und war daraufhin aus allen Künstlergesellschaften ausgeschlossen worden. Aber auch insgesamt war der Stern der Symbolisten damals im Niedergang begriffen.
Seinen Aufstieg hatte Hodler insbesondere einem Skandal zu verdanken. Sein Meisterwerk Die Nacht, das seit Jahrzehnten zum ersten Mal wieder außerhalb von Bern zu sehen ist, zeigt sinnlich ineinander verschlungene Körper und in der Mitte einen aus dem Schlaf gerissenen Mann, ein Albtraumbild und Selbstporträt : das die Stadtherren von Genf damals aus moralischen Gründen von der Ausstellung verbannten:

"Was schockiert hat, das war einmal das Thema: diese ineinander verschlungen Menschen, drei Gruppen. Ein Mann mit zwei Frauen. Außerdem insbesondere die Art, wie er den Frauenakt im Vordergrund des Bildes darstellte: sehr realistisch, der nackte Körper ist anwesend. Hodler hat hier seine Ehefrau und seine Geliebte gemalt, zwischen denen er sein Leben teilte und man spürt wirklich, dass der Maler hier konkrete Modelle hatte."

Doch das Wichtigste blieb bei seinem Bild die innerliche Ausdruckskraft – mit Hilfe zur Ideologie übersteigerter äußerlicher Formen: Symmetrie der Bildfläche, Parallelität der Figuren in vertikaler und horizontaler Hinsicht. Er erreichte dadurch eine bis dahin nie erreichte Monumentalität ohne die Leinwand deshalb vergrößern zu müssen. Nicht umsonst werden Hodlers Landschaftsporträts neben Cézannes Werke als die eindrucksvollsten Beispiele der europäischen Malerei Anfang des 20. Jahrhunderts gehandelt. Mit seinen Motiven von Eiger und Mönch ging Hodler als Schweizer Nationalmaler in die Geschichte ein:

"Wie bei Cézanne finden wir diese starke Beziehung zu einem Standort, an den er immer und immer wieder zum Malen zurückkehrt. Und vor allem diese Sorge, über den Impressionismus hinaus zu gehen, keine impressionistische Landschaft zu liefern, sondern ein Gefühl zu rekonstruieren, nicht nur einen zeitlichen Augenblick eines Standortes."

Hodlers Karriere geht zu Ende wie sie begonnen hat, mit einem skandalträchtigen künstlerischen Engagement.

Wie seine erste langjährige Lebensgefährtin Augustine 1915 malt er auch seine krebskranke Lebensgefährtin Valentine auf dem Sterbebett – und verkauft die über 200 Zeichnungen und Gemälde. Die wie ein Totenvogel über dem Totenbett schwebenden horizontalen Linien übernimmt er auch in seinen letzten Landschafts-Porträts 1918 – als Zeichen der Unendlichkeit und des Todes.

"Man kann sagen, dass da eine Epoche zu Ende geht. Denn in diesen Jahren stirbt 1917 Dégas, 1919 Renoir, 1917 Rodin. All diese großen Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts sterben. Die letzten sterben damals – Monet stirbt 1926, insofern ist es das Ende einer Epoche."

Das Erbe Hodler hingegen geht bis heute weiter – wie der 1944 geborene zeitgenössische Künstler Helmut Federle mit seinen großformatigen und mit horizontalen und vertikalen Linien bedachten Werken beweist, die mit Hodlers Werken in der Ausstellung dialogieren.

Federle sieht sich als jüngstes Glied in der Künstler-Kette zwischen Hodler und Mondrian. Inwieweit ist heute Hodlers Credo noch aktuell, dass die oberste Aufgabe eines Künstlers sein müsse, die Schönheit der Natur sichtbar zu machen? Helmut Federle:

"In einem gewissen Sinne ja, wobei das natürlich zu diskutieren ist. Was ist die Schönheit der Natur? Ist das die Schönheit der Schöpfung, die eigentlich ein abstrakter Moment ist oder ist es die Schönheit der Realität? Und ich denke Hodler hat damit natürlich auch nicht die Schönheit der Realität gemeint, sondern eigentlich der spirituelle Gehalt der Natur als sogenannte göttliche Schönheit."