Künstlerisches Kapital der EU-Erweiterung

Von Ulrike Gondorf · 17.04.2006
Mit einem europäischen Theaterfestival spiegelte das Düsseldorfer Schauspielhaus in den vergangenen zwei Wochen die Umbruch- und Aufbruchsituation in Europa seit der EU-Osterweiterung wider. Besonders die Ensembles aus Budapest und Krakau zeigten, wie vital die Theaterszene im neuen Europa ist. Die scheidende Generalintendantin Anna Badora setzte mit "Warten auf die Barbaren" einen Schluss- und Höhepunkt ihrer programmatischen Arbeit.
Kafkas Josef K. dirigiert Offenbachs Höllengalopp. Blass und schmal, mit starr geweitetem Blick steht er an der Rampe der schmalen Bühne. Dicht davor, den geschlossenen Eisernen Vorhang im Rücken, sitzen die Zuschauer auf ansteigender Podesterie. Und hinter Josef K. tobt das Inferno: In dem engen schlauchartigen Raum, der sich in unendliche Tiefen zu verlieren scheint, reißen die Mitspieler die unscheinbaren, dunkel getäfelten Wände auf. Überall Klappen, Türen, Schlitze, Schubladen, aus denen die erstaunlichsten Dinge ans Licht kommen: Ein Artist auf einem Hochrad fährt aus der Wand, ein blaues Segelboot, ein rot glühender Drache. Und natürlich quillt jede Menge Papier heraus, vielleicht die Akten des nebulösen Prozesses, zu dem K. geladen ist und dem er sich doch nicht stellen kann?

Eine temporeiche Inszenierung zwischen surrealer Groteske und alptraumhafter Unheimlichkeit, von dem Regisseur Viktor Bodo mit einem geradezu spielwütigen, vielseitigen Ensemble realisiert.

Das war der Abschluss und Höhepunkt des Festivals, mit dem die Düsseldorfer Generalintendantin Anna Badora am Ende ihrer zehnjährigen Intendanz ihr Haus für zehn Tage zur Drehscheibe des europäischen Theaters machte. Aus Barcelona, Palermo, Krakau und Budapest kamen die Gäste und brachten jeweils eine Uraufführung mit.

Und die zweite Säule des Programms bildeten Aufführungen der drei Auftragswerke, die das Düsseldorfer Schauspielhaus in der Reihe "Das neue Europa - Warten auf die Barbaren" in den letzten beiden Spielzeiten bestellt und erarbeitet hatte. Als im Zuge der EU-Osterweiterung Europa wieder ein virulentes Gesprächsthema wurde, wollte Anna Badora - gebürtige Polin - mit diesem Projekt ein Defizit abbauen.

"Das ganze Projekt entstand aus einer Diskussion, die hier vom Ministerium für europäische Angelegenheiten organisiert wurde, wo ich als die einzige von Kulturszene zu einer Diskussion zu geplanter Erweiterung von Europa - da wurde ich dazu eingeladen und mir wurde klar, dass die Kultur gar keine Rolle spielt in diesen Diskussionen, dass man nur versucht, sich zu versichern, dass man nichts gegen Nachbarn hat, die eigentlich fast so sind, wie man selbst ist. Das war wie eine Art Zuckerguss, wo man nicht an die Wurzel kam, die einen redlichen Dialog ermöglichen könnten."

Gemeinsam mit dem polnischen Autor Andrzej Stasiuk hat Anna Badora die Reihe der Auftragswerke konzipiert, die beim Festival jetzt alle noch einmal zu sehen waren: "Orpheus illegal" von dem Ukrainer Jury Andruchowitsch, "Die Reise nach Bugulma" von dem Tschechen Jachim Topol - und die Farce "Nacht", mit der Andrzej Stasiuk den Programmschwerpunkt "Das neue Europa" 2005 eröffnet hatte: eine tragikomische Groteske über nachbarschaftliche Vorurteile zwischen Polen und Deutschen.01

Andrzej Stasiuk: "Das sind Grundstereotypen: Die Polen sind schmutzig, bisschen wild, waschen sich nicht so richtig, unzivilisiert und die Deutschen sind wunderbar organisiert, sauber - und unter Umständen Mörder."

Szene aus "Nacht": "Heute halten sie Ausschau nach Waschmaschinen, Spülmaschinen… In die andere Richtung Blut und Fleisch - alles übrige schon da."

Alle Düsseldorfer Aufführungen wurden in Zusammenarbeit mit den europäischen Partnertheatern realisiert, die jetzt am Festival teilgenommen haben - in jedem Stück agierten Schauspieler aus mindestens zwei Nationen und Sprachen. Auf vielen Gastspielen quer durch Europa sind die Abende inzwischen gezeigt worden. Theaterarbeit hat Anna Badora dabei wie ein Modell möglicher europäischer Begegnungen erlebt.

"Als die Sizilianer anfingen zu improvisieren und loslegten in dem bilderbuchhaften sizilianischen Temperament, waren unsere Schauspieler und auch ukrainische richtig überwältigt, aber auch angespornt zum Dialog mit denen."

Ausgerechnet diese Sizilianer vom Teatro Garibaldi aus Palermo waren bei ihrem Gastspiel in Düsseldorf mit "la gatta die pezza - die Flickenkatze" dann ausgesprochen schwerblütig.

Gescheiterte Existenzen aus einem Armenhaus Europas brachten sie auf die Bühne - in einer düsteren Litanei, die monoton und brutal um Gewalt und sexuelle Obsessionen, um Aberglauben und Alkoholismus kreiste und auch das Zuschauen zu einer quälenden Erfahrung machte.

Besser als diese neapolitanische Kleinbürgerhölle verstand das Publikum die seltsamen Begebenheiten, die das Stary Teatr aus Krakau aufrollte. "Die drei Stigmata des Palmer Eldritch" - dahinter verbarg sich die Dramatisierung eines Science-Fiction-Romans von dem amerikanischen Autor Philip K. Dick. Der nutzt das Medium Science Fiction für gesellschaftskritische Anliegen und das interessiert die Theatermacher in Osteuropa im Augenblick stark.

Die spannende Aufführung aus Krakau, realisiert von dem jungen polnischen Regiestar Jan Klata, schaffte es, uns das Geschehen auf einem vermeintlich weit entfernten Stern näher zu bringen als uns lieb sein kann: kapitalistische Exzesse, mafiöse Machtstrukturen, menschenverachtende Manipulation und Flucht in den Konsumrausch - zur Kenntlichkeit verfremdet.

Interessante Regiehandschriften, hervorragende Ensembles kamen bei diesem Festival aus dem "neuen" Europa: aus Budapest und Krakau. Und das Publikum konnte sich überraschen lassen von bildgewaltigem, trotz der fremden Sprachen unmittelbar zugänglichem Theater - und Vorurteile revidieren. Wer hätte gedacht, dass die Sizilianer düster brütend im Schein einer Kerze und einer Glühbirne versinken können, während in Budapest ein komödiantischer Wirbelsturm entfesselt wird?