Künstlerin mit System

Von Barbara Wiegand · 30.12.2008
Jorinde Voigt ist eine Künstlerin mit System: Ihre Zeichnungen erinnern an wissenschaftliche Diagramme und geben dem Betrachter dabei einige Rätsel auf. Das macht die stillen, unspektakulären Arbeiten umso spannender. Und es machte bereits viele Sammler und Museen aufmerksam auf die junge Berliner Künstlerin, die an der Universität der Künste bei Katharina Sieverding studierte.
"Ein Tag ist immer dann gut, wenn ich mit einem Bild im Kopf aufwache und dann weiß, was ich zu tun habe", sagt Jorinde Voigt. Besucht man die junge Künstlerin in ihrem Atelier in der Berliner Gipsstraße und steht vor ihren großformatigen Arbeiten, dann ahnt man, dass das, was da zu tun ist, eine ganze Menge ist. An guten und wohl erst recht an schlechteren Tagen.
Denn statt wie viele ihrer Künstlerkollegen zum Pinsel zu greifen und farbintensive, neorealistische bis abstrakte Welten zu malen, nimmt Voigt Blei- und Tintenstift zur Hand und zieht Line um Linie auf feinstes Papier. Mal gebogen, mal gerade, entstehen komplexe Kompositionen. Mitunter erinnert das Ganze an ein engmaschig geknüpftes Netz, oder an ein hoch aufgetürmtes Gebirge.

Manchmal formieren sich die Striche auch zu kleinen Schwärmen. Ein anderes Mal zu ineinander verdrehten Spiralen. Es sind rätselhafte Diagramme, bei denen Titel und hineingeschriebene Wörter Hinweise darauf geben, wie man sie deuten könnte. Etwa der "Adlerflug". Verfolgt man mit den Augen die Linien, die mit großem Schwung von einem Punkt zum anderen führen, sieht man in Gedanken die Könige der Lüfte ihre Kreise ziehen.

"Ja, letztendlich sind es 200 Adler, die sich im Raum anordnen. Wenn man genau hinguckt, sind es zwei Halbkreise, die gegeneinander etwas verschoben sind, und entlang des Kreises entfaltet sich ein bestimmter Algorithmus, wie die vorankommen. Das sind zwei Flugbahnen gleichzeitig, und die falten sich so auf: In der ersten Stufe sind das 100, in der zweiten zehn und 90, in der dritten zehn und 80, in der vierten 30 und 70. Das ist die Menge an Adlern."

Ein derart vertrackt gestricheltes Zahlenspiel verbirgt sich auch hinter den fächerartig sich ausbreitenden Linien, die Voigt zum Titel "Zwei küssen sich für eine Minute" gezeichnet hat.

"Ich zeichne Ihnen das mal auf. Also: Zwei küssen sich für eine Minute. In dem Fall wäre es jetzt eins und null. Also nach einer Minute zwei küssen sich für eins und eins, ist zwei Minuten. Und dann ist immer die Anzahl der Paare gleich der Minuten. Also gibt es hier zwei neue Paare, und die Zeit dafür ist zwei und eins. Also nach drei Minuten. Und drei und zwei ist fünf Minuten. Und das heißt jetzt hier fünf neue Paare, und hier unten halt auch."

Mit bewundernswerter Leichtigkeit und Präzision wirft Voigt die Linien aufs Papier und beschriftet sie. Meist tut sie dass Freihand, manchmal nimmt sie ein Lineal oder einen Zirkel zu Hilfe, niemals den Computer. Und so wie sie sich hier an die nach dem Mathematiker Fibonacci benannte unendliche Zahlenfolge anlehnt, bei der sich die jeweils folgende Zahl durch die Addition der vorherigen Zahlen ergibt, macht Jorinde Voigt sich auch sonst Berechnungen und Erhebungen zunutze.

Doch egal ob es sich um fliegende Adler handelt, um Gradzahlen im Wetterwechsel oder Popsongs im Auf und Ab der Charts - Jorinde Voigts Zeichenkunst ist kein simpler Datenklau. Nein, die 1977 in Frankfurt am Main geborene Künstlerin denkt Statistiken auf ihre, besondere Art weiter, erschließt neue Strukturen. Und lässt bei aller Komplexität dem Betrachter noch Raum für seine Interpretationen.

"Es ist so ähnlich wie das Lesen einer Partitur. Und wenn man die Partitur lesen kann, dann hört man ja in sich schon die Musik. Und das ist ja kein Schriftsystem, das man vorher erlernen muss. Das Auge hat ja vorher schon eine bestimmte Kenntnis. Und die Information, die sich da zeigt, die ist eigentlich sehr genau, obwohl uns die Begriffe dafür fehlen."

Zu diesem Vergleich passt, dass Jorinde Voigt die Komponisten Patric Catani und Chris Imler mit der Vertonung einzelner Werke beauftragte. Und es passt auch, dass sie Hanne Darboven als eines ihrer Vorbilder bezeichnet. Nicht nur, weil die Hamburger Künstlerin ebenfalls die Grenzen zwischen Musik und Bildender Kunst überschreitet. Sondern vor allem, weil deren Konzept auch auf solchen Wort und Zahlenreihen beruht.
Ihre "künstlerischen Studien" betreibt Jorinde Voigt mit einer Ernsthaftigkeit und Akribie, die beeindruckt. Gerade in Zeiten, in denen bis vor kurzem noch der Hype um den Markt und seine jungen Künstler tobte. Die Schnelllebige Kunst ist genauso wenig ihre Welt, wie In-Parties und Vernissagen. Was nicht heißt, dass Jorinde Voigt nicht nach Anerkennung für ihre Arbeit streben würde.

Und die bekommt die einstige Meisterschülerin von Katharina Sieverding an der Berliner Universität der Künste mehr und mehr. Im vergangenen Jahr stellte sie als GASAG-Förderpreisträgerin in der Berlinischen Galerie aus und ist derzeit innerhalb einer Präsentation von Neuankäufen der Bundeskunstsammlung im Martin Gropius Bau zu sehen. Im kommenden Jahr sind Ausstellungen in Valencia und New York geplant.

Ein Erfolg, der sich vor allem beim genauen Hinsehen erschließt - denn die auf den ersten Blick manchmal statistisch spröde wirkenden Zeichnungen sind auf den Zweiten viel mehr als das.

"Es ist eher so ein Spiel, es könnte ja auch so sein, oder so. Und was passiert, wenn das so ist. Und da sieht man halt, das erzeigt dann Crashs, oder wird absolut absurd, oder unglaublich schön und klar, wie sonst nichts im Leben. Aber man entdeckt dabei auch ständig etwas."