Künstler in allen Lebenslagen

Von Camilla Hildebrandt |
Die Stücke von Robert Lepage haben eine ganze Generation von Künstlern und Theaterschaffenden beeinflusst. Der 52-Jährige schreibt jedoch nicht nur, er inszeniert auch, baut Bühnenbilder und macht Performances. Sich auf eine Disziplin zu konzentrieren - das wäre ihm viel zu langweilig.
Einen Monat lang an einem Projekt arbeiten, in einer Disziplin, immer dieselben Passagen bis zur Perfektion wiederholen? Nein, das ist nicht Robert Lepage.

"Heutzutage muss man sehr kreativ sein, wie eine Antenne, muss immer wissen, was abgeht und kann sich nicht hinter Aussagen wie: 'Ich bin Brecht-Spezialist', oder 'Ich inszeniere nur Shakespeare' zurückziehen."

Lepage, der mit seinem langjährigen Freund Kevin in Québec lebt, arbeitet lieber an mehreren Stücken gleichzeitig. An einer Bühnenshow für Peter Gabriel, an einem Konzept für den berühmten Cirque du Soleil, an einer Kinofilm-Produktion oder an einem modernen Tanzstück, zusammen mit der ehemaligen Primaballerina Sylvie Guillem.

"Man muss sich inspirieren lassen, muss in Bewegung bleiben, die Entwicklungen mitgehen, man muss sich allem öffnen, kommunikativ sein. Ich bin jemand, den das sehr fasziniert, wie man heute etwas erzählen kann, indem man das ganze Vokabular, das existiert, benutzt."

Robert Lepage, 1957 in Kanada, Québec, geboren, scheint immer offen zu sein für Neues, für Altes und für Traditionelles. Auch im Interview ist für ihn keine Frage überflüssig, kein Thema schon zu oft besprochen. Zum legeren Outfit - schwarze Jeans und schwarzes Sweatshirt - trägt er heute eine dunkle Kurzhaarperücke. Nicht etwa aus modischen Gründen, sondern weil Lepage mit fünf Jahren die Krankheit "Alopecia Areata" bekam.

"Was bei dieser Krankheit passiert, ist das, dass man alle Haare am Körper verliert. Und das war damals sehr schwer! Ich musste sehr früh lernen, mit Sarkasmus umzugehen, musste stark sein, meinen Platz finden. Und es ist seltsam, aber heute stelle ich fest, dass mich das sehr sensibel für Themen wie zum Beispiel Rassismus gemacht hat, ein Thema, mit dem ich mich sehr identifizieren kann."

"Als ich zum Beispiel das Theaterstück "Andersen Projekt" gemacht habe, war ich sehr erstaunt, was für einen Mut ich hatte, dieses Thema zu berühren, ich meine die Grausamkeit der Kinder. Ein sehr delikates Thema, denn Kinder sind im Allgemeinen sehr verletzlich, man muss sie beschützen. Aber unter ihnen herrscht so etwas wie ein Mikrokosmos der Gewalt. Das schleppe ich mein Leben lang mit mir herum."

Seine Kindheitserfahrung hat Lepage aber nicht hart werden lassen. Im Gegenteil, eine kindliche Begeisterung ist in jedem seiner Werke zu spüren.

"Ich wurde als Kind oft von den Spielen ausgeschlossen. Das führte vielleicht dazu, dass ich ein ewiges Kind geblieben bin, ich meine, dass ich immer die spielerische Seite in meiner Arbeit suche. Das heißt nicht 'sich amüsieren', sondern ich spreche vom 'Ludischen'. Das ist sehr wichtig. Und diese Art Theater zu spielen, haben wir vergessen."

Wie er überhaupt zum Theater kam? Schließlich soll er als Kind sehr schüchtern gewesen sein? Nicht durch seine Eltern, meint Lepage schmunzelnd. Die gehörten zur einfachen Arbeiterklasse. Vielmehr durch seine Schule. Denn in den 70ern wurde in Québec die Kunst sehr gefördert.

"Das heißt, als ich auf das Gymnasium kam, musste ich entweder Gitarren-, Theater- oder Klavierstunden nehmen. Ich mochte das Theater, denn dort konnte ich mich hinter der Gruppe verstecken."

Außerdem war es seine ein Jahr jüngere Schwester Lynda – aus der Gruppe der vier Geschwister -, die ihn zum Theaterspielen antrieb. Mit ihr verbindet Robert Lepage heute noch eine sehr innige Freundschaft. Lynda ist seine Managerin, Geschäftsführerin und Vertraute.

"Ich erinnere mich an eine Situation, als ich als Jugendlicher in einem Theaterstück auftreten sollte, aber partout nicht konnte. Am Premierenabend war sie es dann, die mich in ein Taxi geschoben hat und sagte: Komm, du gehst da jetzt hin. Das war ein sehr wichtiger Moment, denn ich merkte, dass ich fähig war, diesen Beruf auszuüben."

Als Chefregisseur, als derjenige, der alles entscheidet – so versteht sich Lepage nicht. Natürlich habe er eine gewisse Handschrift, aber es sei vielmehr das Werk selbst, das bestimme. Er sei nur der Ausführende.

"Diese Bescheidenheit muss ich lernen. Denn in der Kunst hat letztendlich das Werk Recht."

Lepages Stücke entstehen und entwickeln sich weiter, selbst noch am Abend der Premiere.

"Das macht die Leute verrückt, aber gleichzeitig ist das der Charakter des Spiels von Anfang an. Und die Premiere ist für mich der Tag, an dem sich alles herauskristallisiert, der erste Kontakt mit dem Publikum. Also wir verändern jeden Tag das, was wir spielen. Nicht um dem Publikum zu gefallen, sondern um besser in Dialog mit ihm zu treten."