Kühle Präzision des Beobachtens

Der 45-jährige japanischstämmige Kazuo Ishiguro war stets ein Meister des Melancholischen. So auch diesmal: Seine fünf Kurzgeschichten stecken voller Wehmut und Trauer, sinnieren vergangenem Glück hinterher. Gleichzeitig aber stecken sie voller hintergründigem Witz - kommen bisweilen einer Farce nahe.
An Überraschungen jedenfalls fehlt es nicht. Alle fünf Geschichten haben einen Plot, der nicht vorhersehbar ist. Sie verbindet zudem ein Leitmotiv, und das ist die Musik. In drei der Geschichten stehen Musiker im Mittelpunkt und in den beiden übrigen spielt das Musizieren eine wichtige Rolle.

Ein ehemaliger Star aus der goldenen Ära des amerikanischen Schlagers, der Sänger Tony Gardner, ist mit seiner Frau nach Venedig gekommen. Er engagiert einen jungen Gitarristen - den Erzähler - der in einem der Kaffeehausorchester am Markusplatz spielt, um mit ihm seiner Frau ein mitternächtliches Ständchen zu bringen. Der ist begeistert, war doch seine Mutter im kommunistischen Polen, in dem er aufwuchs, ein großer Fan des Amerikaners. Mit einer Gondel lassen sich die beiden unter das Fenster der Frau fahren. Die Serenade erfüllt ihren Zweck: Sie rührt die Frau zu Tränen, doch aus einem ganz anderen Grund als der Gitarrist geglaubt hat.

Auf sehr zurückhaltende Art komisch - aber das gilt prinzipiell für alle Arbeiten Kazuo Ishiguros - schildert die Titelgeschichte "Bei Anbruch der Nacht" den Versuch eines talentierten Jazzmusikers, ein größeres Publikum zu gewinnen. Sein Agent überredet ihn zu einer Schönheitsoperation. Mit einem hübscheren Gesicht, so suggeriert er ihm, könne er besser bezahlte Auftritte bekommen, würde endlich eine Karriere machen, die seinem spielerischen Können entspricht.

In der Klinik trifft er auf die Frau aus der ersten Geschichte, die inzwischen geschiedene Mrs. Gardner, die sich hat liften lassen. Mitternächtlich erkunden die beiden das Hotel, in dem sie solange wohnen, bis ihre Gesichtsbandagen abgenommen werden. Dabei kommt es zu absurden Situationen: So wird der Jazzmusiker zum Beispiel auf der Bühne des Hotelsaals mitten in der Nacht dabei überrascht, wie er mit dem Arm in einem Truthahn steckt - eine Farce über die Mühen des Berühmtseins und die Qualen des verkannten Talents.

Die mit Abstand gelungenste und aberwitzigste Geschichte beschließt das Buch: Ein junger, ausgesprochen fähiger Cellist - Kaffeehausmusiker auf einer italienischen Piazza - bekommt von einer Amerikanerin Cellounterricht angeboten. Er kennt sie nicht, ist aber rasch von ihrem enormen Wissen beeindruckt. Ihr Einfühlungsvermögen, ihre präzise Kritik, ihre fundierten Vorschlägen faszinieren ihn. Sein Spiel wird tatsächlich besser, tiefer, sinnlicher. Was ihn allerdings zunehmend irritiert, ist der Umstand, dass seine Lehrerin nicht ein einziges Mal ein Cello in die Hand nimmt. Offenkundig besitzt sie nicht mal eines. Des Rätsels Lösung soll hier nicht verraten werden. Nur soviel sei gesagt: Die Verblüffung ist groß und ein Stück weit traurig.

Kazuo Ishiguro behält auch in seinen Kurzgeschichten, die eher Novellen gleichen, jenen Ton bei, der alle seine Romane auszeichnet: kühl und unbeteiligt, streng und höflich - formvollendet. Seine Erzähler zeichnet Distanz aus, sie vermerken die Ereignisse mit einer Art emotionaler Ungerührtheit, obwohl sie bisweilen direkt betroffen sind. Ishiguro liebt die kühle Präzision des Beobachtens. Keiner zeigt seine Betroffenheit. Man hält seine Verletztheit vor den anderen verborgen, spricht darüber nicht. Und doch spürt man sie deutlich.

Besprochen von Johannes Kaiser

Kazuo Ishiguro: Bei Anbruch der Nacht
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Karl Blessing Verlag, München 2009
240 Seiten, 19.95 Euro