Kuba, Nordkorea, Tansania

Blinde Flecken in der Coronakrise

22:56 Minuten
Kunden stellen sich vor einer Bäckerei in Havanna auf. Der sozialistisch regierte Karibikstaat Kuba hat die strengen Anti-Corona-Maßnahmen in der Hauptstadt Havanna gelockert.
Lange Schlangen vor den Geschäften: In Kuba ist derzeit fast alles Mangelware. © picture alliance / dpa / Guillermo Nova
Von Anne Demmer, Kathrin Erdmann, Julian Hilgers · 26.10.2020
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Aus manchen Ländern gibt es tägliche Lageberichte zur Coronakrise, aus anderen erfährt man gar nichts. Nordkorea schottet sich ab, Tansania ignoriert das Virus. Kuba hingegen hat die Pandemie gut im Griff, kämpft aber mit anderen Problemen.
Kuba hat keinen Grund, die Coronakrise klein zu reden, im Gegenteil. Das Gesundheitssystem ist vergleichsweise gut und für alle zugänglich. Ärzte gibt es genug und die Corona-Fallzahlen sind niedrig geblieben. Aber die wirtschaftliche Lage ist katastrophal.
Die Straßen in der Altstadt von Havanna füllen sich zwar wieder und die Kubaner und Kubanerinnen sitzen in den Restaurants. Aber vor vielen Geschäften bilden sich lange Schlangen. Abel Álvarez kauft mittlerweile in den Dollarläden ein. Rund 70 haben seit Juli auf der sozialistischen Karibikinsel neu eröffnet. Dort kann der 49-Jährige Dinge kaufen, die es in den normalen Läden nicht gibt. Italienischen Kaffee, Pasta, Speiseöl, Shampoo bis hin zu Elektrogeräten.

"Wir bekommen von Familienangehörigen im Ausland Geld geschickt. Das deponieren wir auf einer Karte, damit können wir dann in den Dollarläden einkaufen gehen. Aber es gibt nicht ausreichend Waren und wir müssen Schlange stehen."

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Einkaufen kann hier nur, wer Zugang zu Devisen hat, etwa Geldsendungen von der Familie im Ausland, die sogenannten "Remesas":
"Das Zwei-Klassen-System wird damit nur noch mehr gefördert", kritisiert Abel. Die Lebensmittel und Hygieneprodukte seien sogar in den Dollarläden knapp und überteuert. "Ich bin letztens mit meiner Frau auf das Motorrad gestiegen. Wir wollten Kaffee kaufen, haben alle Läden in der Umgebung abgeklappert und haben keinen bekommen."

Kuba produziert selbst kaum etwas, ist auf den Import von Lebensmitteln angewiesen, und das ist teuer. Rund zwei Milliarden US-Dollar gibt das Land jährlich dafür aus.

Keine Touristen, keine Devisen

Mit den Dollarläden sollen Devisen ins Land kommen. Die kubanische Regierung will damit der sich durch die Pandemie immer weiter zuspitzenden Wirtschaftskrise und den US-Sanktionen entgegenwirken. Doch auch wenn sich das Land jetzt wieder langsam öffnet, internationale Touristen bleiben nach wie vor aus und damit die Haupteinnahmequelle für Devisen. Die Pandemie habe Kuba hart getroffen, sagt der kubanische Wirtschaftswissenschaftler Omar Everleny.
"Wir müssen realistisch sein. Es gibt keinen Sektor in der kubanischen Wirtschaft, der uns die Einnahmen aus dem Tourismus ersetzen kann. Zusätzlich bedroht uns die US-Blockade. Viele lateinamerikanische Länder wurden so von den USA unter Druck gesetzt, dass sie ihre Handelsverträge aufgelöst haben."
Auch Abel setzt seit einigen Jahren auf die Einnahmen durch Touristen. Er hat in zwei Wohnungen investiert, die er an Urlauber vermietet. Abel hat sie renoviert, aufgehübscht, es gibt heißes und kaltes Wasser. Die Touristen sollen den Komfort haben, den sie gewohnt sind, erzählt er stolz. Doch seit Beginn der Pandemie stehen sie leer:
"Mit der Schließung der Grenzen kam kein Tourist mehr rein. Aber man muss auch das Positive im Negativen sehen. Die Regierung hat uns entlastet. In den letzten Monaten mussten wir keine Steuern zahlen – davon haben die Selbständigen profitiert, die Zimmer an Ausländer vermieten."

Die Gesundheit ist das kleinste Problem

Derzeit leben Abel und seine Frau von Ersparnissen. Um seine Gesundheit macht er sich in der Coronakrise keine Gedanken. Seit Beginn der Pandemie gehen kubanische Medizinstudenten von Haus zu Haus, um nach Risikopatienten zu sehen und nach Infizierten zu suchen. Im kubanischen Gesundheitssystem fällt keiner durchs Raster – so wie in den USA, meint Abel Álvarez. Eine Verwandte sei mit Covid-Verdacht ins Krankenhaus gegangen, habe dort 3000 Dollar bezahlen müssen für einen fünfstündigen Aufenthalt. Sie hatte keine Krankenversicherung.
"Der Unterschied ist – wenn es hier in Kuba eine Notsituation wie die Pandemie gibt, dann richten sich alle Anstrengungen darauf, sie in den Griff zu bekommen. Wir hatten zwei Verdachtsfälle in der unmittelbaren Familie. Sie mussten in ein spezielles Isolationszentrum. Für Besucher ist der Zutritt verboten, wegen der Ansteckungsgefahr. Das ist natürlich kein Drei-Sterne-Hotel, aber man bekommt alle Mahlzeiten. Das gehört zum System – die kostenlose medizinische Versorgung."
Dr. Yudileikis Rodriguez (2.v.r.) und eine Gruppe von Studenten besuchen Häuser in ihrer Gemeinde auf der Suche nach Corona-Verdachtsfällen. Tag für Tag gehen auf Kuba Tausende Ärzte und Medizinstudenten von Tür zu Tür und suchen nach Infizierten.
Die Corona-Jäger von Kuba© picture alliance / dpa / Guillermo Nova
An Know-how mangelt es auf der sozialistischen Karibikinsel nicht. Aber zu Beginn der Pandemie bestand die Sorge, dass die medizinischen Geräte nicht ausreichen. Schnell wurde ein Team zusammengestellt, das für funktionierende Notfallbeatmungsgeräte sorgen sollte. Dazu gehörte auch Ernesto Velarde Reyes vom Zentrum für Neurowissenschaften in Havanna. Zunächst haben er und seine Kollegen alte Beatmungsgeräte gewartet. Doch für die Reparatur fehlten wichtige Komponenten, die nur im Ausland zu bekommen sind. Für Kuba eine große Hürde:
"Die US-Sanktionen haben uns vor allem während der Coronakrise sehr geschadet. Die Herstellerfirma unserer Beatmungsgeräte wurde von einem amerikanischen Unternehmen übernommen. Und ab diesem Moment haben sie keine Ersatzteile für die Beatmungsgeräte mehr geliefert."

Improvisationstalent ist einmal mehr gefragt

Das Team stand also vor der Herausforderung eigene Geräte zu entwickeln. Improvisationstalent war im Land des Mangels einmal mehr gefragt. Eine fachkompetente Anleitung bekamen die Entwickler ausgerechnet aus den USA: Auf den Internetseiten des Massachusetts Institute of Technology fanden sie die Informationen für die mechanische Entwicklung – auf der Grundlage von Open-Source-Codes, die die Forscher des Instituts der Öffentlichkeit zur Verfügung stellten. Die Entwickler haben mit den verschiedensten Institutionen auf der sozialistischen Karibikinsel zusammengearbeitet, bis hin zum Verband der Militärindustrie, erzählt Velarde Reyes.
"Es war natürlich eine große Herausforderung, das Beatmungsgerät hier zu entwickeln. Wir brauchten einen leistungsfähigen Motor. Wir haben angefangen in den sozialen Netzwerken zu suchen, in Whatsapp-Gruppen. Und dort haben wir tatsächlich einen gefunden. 200 Dollar hat er gekostet, das ist für einen Kubaner ganz schön viel Geld. Ein Unternehmer, den ich persönlich gar nicht kannte, hat ihn sogar einfach so zur Verfügung gestellt. Wir haben alles gemacht, damit jeder Kubaner ein Beatmungsgerät bekommt, wenn es notwendig wird."
Aber Komponenten wie Bildschirme und Prozessoren mussten am Ende doch importiert werden. Unterstützung bekamen die Neurowissenschaftler von Medicuba-Suisse. Auch die Schweizer Nichtregierungsorganisation musste die US-Sanktionen umschiffen, erklärt Manuel Vanegas Ayala.
"Für uns ist es sehr schwierig einen Finanztransfer zu veranlassen. Für jeden Geldtransfer, den wir machen, müssen wir immer ein Labyrinth finden, damit Kuba das Geld auch direkt bekommt."
Zwei Forscher zeigen am 10. Juli 2020 ein Beatmungsgerät im kubanischen Neurowissenschaftszentrum in Havanna, Kuba.
Trotz US-Sanktionen an Beatmungsgeräte kommen - da ist Erfindergeist und Improvisationstalent gefragt.© laif / eyevine / Xinhua / Joaquin Hernandez
Der zunehmende wirtschaftliche Druck und die US-Blockade hätten in Kuba Reformen bewirkt, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Omar Everleny. Kleine und mittelständische Unternehmen würden mehr unterstützt. Selbständige hätten mehr Freiheiten. Dennoch: Die Reformen würden angesichts der extremen Wirtschaftskrise nach wie vor zu langsam umgesetzt.
"Am 26. Juli wurde über eine neue Strategie debattiert. Die Entscheidungsprozesse sind sehr schleppend. Jede Woche werden zwei oder drei Maßnahmen verabschiedet, die uns aber nicht dabei helfen, der momentanen Wirtschaftskrise zu begegnen. Fast alle Sektoren leiden darunter und schreiben negative Zahlen."

Gespannt wartet Kuba auf den Ausgang der US-Wahlen Anfang November. Viele hoffen auf einen erneuten Annäherungskurs zwischen den USA und Kuba – mit dem Demokraten Joe Biden als Präsident.

Außerdem in der Sendung: Im Podcast der Weltzeit berichtet unsere Korrespondentin in Tokio, Kathrin Erdmann, über die weiter zunehmende Abschottung Nordkoreas vom Rest der Welt, über die Schwierigkeiten, überhaupt an gesicherte Informationen aus dem Land zu kommen, und über eine bemerkenswerte Ansprache Kim Jong-uns an sein "geliebtes Volk".

Kim Jong-un, 19. Juli, 2020.
© picture alliance / YNA

Keine Tests und keine Infizierten in Tansania

Sieht man derzeit Videos aus Tansanias Hauptstadt Dodoma, staunt man: Auf dem Markt herrscht gewohnt dichtes Gedränge, die Minibusse sind wie immer prall gefüllt. Eine Maske trägt niemand. Warum auch? Offiziell hat Tansania gerade mal 509 Corona-Infektionen gemeldet. Die letzte Ende April. Die Videos aus Dodoma hat Kenny Kassian via Whatsapp geschickt. Dort arbeitet er für eine Nichtregierungs-Organisation.
"Wir haben keine Fälle mehr. Du kannst unser Land besuchen. Alles ist gut. Der Alltag läuft normal. Dafür danken wir Gott."
Gott spielt eine große Rolle in Tansania. Ganz besonders in der Corona-Pandemie. Einen echten Lockdown gab es hier nie – anders als in vielen anderen afrikanischen Staaten. Die Kirchen blieben durchgehend geöffnet, nur Schulen und Universitäten schlossen für kurze Zeit. Mit Gottes Hilfe könne man das Virus besiegen, so die Ansage von Tansanias Präsident John Magufuli zu Beginn der Pandemie:
"Corona wird im Leib Christi nicht überleben, es wird verbrennen."

Am 8. Juni erklärte Magufuli die Pandemie für besiegt – dank Gottes Hilfe natürlich. Doch Experten zweifeln an diesen Zahlen. Die Weltgesundheitsorganisation warf der Regierung mangelnde Transparenz und Kooperation vor. Zudem seien die Testkapazitäten sehr gering, erklärt Daniel El-Noshokaty, Leiter des Büros der CDU-nahen Konrad Adenauer Stiftung in Tansania im Skype-Gespräch und verweist auf die Gesundheitsbehörde der Afrikanischen Union.
"Die African CDC hat ja gesagt, dass Tansania bis zum 7. Mai ohnehin nur 700 Tests durchgeführt hat insgesamt. Und davon waren 509 positiv. Das ist schon eine gute Quote und daran sieht man auch, dass einfach nicht besonders viele Leute getestet worden sind. Es gibt bis heute nur ein staatliches Labor, das diese Tests überhaupt durchführen darf."

Geheime Begräbnisse in der Nacht

El-Noshokatys Büro liegt in der Metropole Daressalam am Indischen Ozean. Die Opposition vermutet allein hier 400 Corona-Tote. In den offiziellen Statistiken können sie aber gar nicht auftauchen. Denn während der Pandemie durften Familien ihre verstorbene Angehörige ohne staatliche Anmeldung beerdigen. Im Internet kursierten Videos von geheimen nächtlichen Begräbnissen. Verstorbene Corona-Patienten, die die Regierung verheimlichen will?
"Das weiß eigentlich jeder hier, dass es diese nächtlichen Beerdigungen gegeben hat, wo die Menschen direkt aus dem Krankenhaus direkt irgendwo beerdigt wurden und niemand dabei sein durfte."
Das große Problem in Tansania: Kaum jemand traut sich, kritisch über den Corona-Kurs der Regierung und die offiziellen Zahlen zu sprechen. Aus gutem Grund: Seit Präsident Magufuli im Jahr 2015 an die Macht kam, wurden zahlreiche TV-Stationen geschlossen und Journalisten und Oppositionelle entführt oder verhaftet, erzählt Journalist Charles Kombe im Skype-Gespräch. Er arbeitet als Stringer für den amerikanischen Auslandssender Voice of America in Tansania:
"Die Pressefreiheit ist in den letzten vier, fünf Jahren extrem zurückgegangen. Journalismus ist aktuell nicht sehr sicher. Die Menschen haben Angst regierungskritische Dinge zu schreiben. Selbst wenn man nur eine unkritische Umfrage draußen macht: Die Menschen haben Angst zu sprechen."

Präsident Magufuli glaubt den offiziellen Zahlen übrigens selbst nicht. Schließlich seien sogar eine Ziege und eine Papaya positiv auf das Coronavirus getestet worden, sagte er in einer Rede. Belege dafür gibt es nicht. Und obwohl der Präsident das Virus kleinredet – die Menschen in Tansania waren zu Beginn der Pandemie sehr vorsichtig, erzählt die Studentin Tusa aus Daressalam bei Whatsapp:
An einem Bahnhof ist ein Verkaufsstand für Getränke zu sehen, die Menschen, die herumlaufen und -sitzen, tragen keinen Mundschutz.
War da was? Von Corona ist im Alltag Tansanias kaum etwas zu spüren.© Deutschlandradio / Julian Hilgers
"Viele Familien haben Ingwer- und Zitronentee getrunken und Eukalyptus und andere Pflanzen genutzt. Das heilt Corona natürlich nicht. Aber es schützt das Atemsystem. Deshalb machen es viele Familien noch immer."

"Aktuell haben wir keine Verdachtsfälle"

Hier zeigt sich die Kehrseite der Medaille. Denn tatsächlich scheint die Zahl der Infektionen im Land inzwischen auch inoffiziell gering zu sein. Zum Glück, sagt Paul Patrick, der in einem kleinen Krankenhaus im Zentrum des Landes arbeitet. Beatmungsgeräte und Intensivbetten gibt es dort nicht. Aber eben auch keine Infizierten, berichtet er via Whatsapp:
"Aktuell haben wir keine Verdachtsfälle. Natürlich haben wir Patienten mit ähnlichen Symptomen: Fieber, Atemwegsprobleme oder einfache Erkältungen. Aber es ist nicht Covid-19."
Das Leben auf den Straßen von Tansania läuft deshalb wie immer. Die Wirtschaft wächst weiter. Nur Touristen kommen kaum, obwohl kein Corona-Test oder Quarantäne nötig sind. Eine Ausgangssperre hätte der Bevölkerung wohl deutlich stärker geschadet als das Virus, erklärt Journalist Charles Kombe.
"Viele Menschen hier leben von der Hand in den Mund. Sie gehen raus, handeln. Kaufen vielleicht ein Kilo Reis. Ein Lockdown würde viele Menschen betreffen. Die Menschen würden vielleicht an Hunger sterben."
Zumindest für Präsident John Magufuli ist die Vertuschungsstrategie aufgegangen. Bei den Parlamentswahlen in dieser Woche will er wiedergewählt werden. Offiziell sind in Tansania gerade mal 21 Menschen an Covid-19 gestorben. Für Magufuli ein gutes Argument, wieder für ihn zu stimmen.
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