Kryptologie

Die wahren Enigma-Knacker kamen aus Polen

Von Arkadiusz Łuba · 01.10.2021
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Im westpolnischen Posen stand in der Zwischenkriegszeit das Chiffrierbüro des polnischen Generalstabs. Nun würdigt ein Museum die Pionierleistung polnischer Enigma-Knacker, die auf die komplizierte Chiffriermaschine der Nazis angesetzt waren.
"Herzlich willkommen im Chiffrenzentrum Enigma", begrüßt mich der Audioguide. "Enigma ist das griechische Wort für Rätsel. Diesen Namen bekam im 20. Jahrhundert die berühmte deutsche Chiffriermaschine, die Nazideutschland die Eroberung in beinahe ganz Europa ermöglichte. Die Enigma-Chiffre zu brechen, war eine der größten Herausforderungen der Alliierten. Als entscheidend erwies sich in diesem Kampf nicht die Kraft, sondern der Intellekt."
Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Das ist auch bei der Entschlüsselung der Enigma der Fall. Die wird ja meist mit dem britischen Mathematiker Alan Turing verbunden. Dabei beginnt die Geschichte der Codeknacker im Januar 1929 in Polen.
An der Universität in Posen lernten die leistungsstärksten Studenten der Fakultät für Mathematik damals in einem Chiffrierkurs des polnischen Geheimdienstes die Grundlagen der Kryptologie. Unter ihnen waren die Mathematiker Marian Rejewski, Henryk Zygalski und Jerzy Różycki.
"Wir erzählen nicht nur über Enigma, sondern besonders über die polnischen Entdeckungen, also die polnischen Maschinen, die bei der Enigma-Dechiffrierung geholfen haben", sagt der Historiker Piotr Bojarski, der Leiter des neu eröffneten Chiffrenzentrums Enigma. "Wir erzählen die Geschichte dieser drei Leute, die es geschafft haben, die noch nicht so bekannt sind wie zum Beispiel Alan Turing."
Die Polen hatten bereits Erfahrung und erste Erfolge in der Kryptologie. Bereits 1919 hatten sie ein professionelles Chiffrenbüro eingerichtet, um die Nachrichten der Russen während des polnisch-sowjetischen Krieges zu entschlüsseln.
Dann geriet 1929 durch einen glücklichen Zufall eine Enigma-Maschine in polnische Hände. Im Warschauer Zollamt tauchte eines Tages ein seltsames Paket auf, auf dessen Rückgabe ein geheimnisvoller Deutscher bestand. Das Zollamt informierte das Chiffrenbüro. Das Gerät wurde abfotografiert und bemessen, seine Verkabelung akribisch nachgezeichnet.

Viele Wissenschaftler kannten die deutsche Mentalität

Kein Zufall war es, dass der polnische Geheimdienst Posen für das Chiffrenbüro ausgesucht hatte. Die Stadt hatte nach der Zerschlagung Polens über 120 Jahre lang bis 1918 zu Deutschland gehört. Hier sprachen viele Studenten und Wissenschaftler Deutsch, ihnen waren auch die deutsche Mentalität und Denkungsart vertraut.
"Die deutsche Mentalität, also die Liebe zur Ordnung, war sehr wichtig, besonders wenn es um die Schlüssel zum Enigma-Code geht", sagt der Historiker Piotr Bojarski. "Marian Rejewski, der wichtigste polnische Kryptologe, wusste während seiner Arbeit an der Enigma-Chiffre, dass wahrscheinlich die deutschen Chiffranten am Anfang ja einfache Schlüssel stellen werden, weil sie wahrscheinlich so die Ordnung lieben, dass sie nicht etwas kompliziert machen werden."
Die Polen konstruierten die ersten Maschinen, die gegen die Enigma arbeiteten. 1935 wurde ein Zyklometer entworfen – in seiner äußeren Form ein Mix aus Enigma und einer Schreibmaschine. Es diente der Bestimmung der zyklischen Struktur der Enigma-Chiffre. Leider war das System sehr langsam, und als die Deutschen 1938 dann noch ihre Verfahrenstechnik änderten, wurde das Zyklometer nutzlos.
Daraufhin entwarf Marian Rejewski innerhalb nur eines Monats ein neues Gerät, die so genannte Rejewski-Bombe. Diese schlicht aussehende Box mit sechs Enigma-Walzensätzen und drei Reihen von Alphabetschaltern analysierte nach höchst komplizierten mathematischen Formeln alle Anfangsstellungen der Enigma-Rotoren und hielt sie in der Lösungsposition an.

Wie beim Spiel "Schiffe versenken"

Eine weitere polnische Erfindung waren die Zygalski-Lochblätter. Das waren Papierblätter mit Löchern an denjenigen Stellen, wo die Chiffre von Enigma eine spezifische Eigenschaft aufwies. Immer wenn mehrere Blätter aufeinandergelegt wurden und bestimmte Löcher miteinander stimmten, konnte der am gegebenen Tag gültige Chiffrierschlüssel gefunden werden. In ihrer Form erinnerten sie an das Spiel "Schiffe versenken".
Weder das Zyklometer noch die Rejewski-Bombe überstanden den Krieg. Anhand von Skizzen und Beschreibungen wurden sie für das Posener Museum rekonstruiert.
Rotor-Chiffriermaschine Enigma der Deutschen im Posener Museum
Rotor-Chiffriermaschine Enigma der Deutschen im Posener Museum© Arkadiusz Łuba
Den polnischen Enigma-Knackern fehlten die finanziellen und technischen Mittel, um ihre Arbeit weiter voranzutreiben, aber sie zögerten, ihre Entdeckungen mit den Briten und Franzosen zu teilen. Erst wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren sie bereit dazu.
Piotr Bojarski: "Die Polen haben das lange Zeit geheim gehalten. Sie fürchteten, dass im britischen Chiffrierbüro einige deutsche Spione existieren. Der polnische Nachrichtendienst wusste, dass solche deutschen Spione in französischen Geheimdiensten arbeiten. Es war also möglich, dass dieses Geheimnis sehr schnell schon kein Geheimnis wird."

Briten und Amerikaner profitierten von der Arbeit der Polen

Dank dem polnischen Know-how bauten britische und US-amerikanische Kryptologen schließlich riesige leistungsstarke Maschinen, die wie die Rejewski-Bombe die Entschlüsselung von Chiffren erleichterten. Der bekannteste unter ihnen war der Brite Alan Turing. Sein Neffe Sir Dermot Turing schrieb vor drei Jahren ein Buch, in dem er die Rolle der polnischen Enigma-Knacker bestätigt:
"Lange bevor Alan Turing in Bletchley Park überhaupt arbeiten konnte, waren die polnischen Enigma-Knacker schon erfolgreich. Alles, woran man in Bletchley Park arbeitete, entstand auf dem Fundament, das die Kryptologen in Warschau geschaffen hatten."
Ein riesiges Enigma-Modell wirbt für das Chiffrenzentrum Enigma in Posen, hinten rechts im Bild.
Ein riesiges Enigma-Modell wirbt für das Chiffrenzentrum Enigma in Posen, hinten rechts im Bild.© Arkadiusz Łuba
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