Krumm und krakelig

Von Thomas Klug und Tim Lang |
Die Handschrift, einst eine hohe Kunst, findet heutzutage immer weniger Verwendung. Buchdruck, Schreibmaschine und zuletzt der Computer machten den Griff zum Füller überflüssig. Verschwunden damit ist auch die sehr persönliche Note eines Schriftstücks.
„Ich fühlte mich wohlgemut, ja fast ausgelassen.“

„Ich zündete mir mit einem Streichholz meine Zigarre an … und gerade in diesem Augenblick wurde die Morgenpost hereingebracht. Gleich die erste Aufschrift, auf die mein Blick fiel, war in einer Handschrift geschrieben, die mir ein prickelndes Gefühl des Vergnügens bereitete, das mir durch und durch ging.“

„Es war Tante Marys Handschrift… Nun, der Anblick ihrer Handschrift erinnerte mich daran, dass ich geradezu danach verlangte, sie wieder zu sehen.“

Eine Handschrift, die fasziniert, die Erinnerungen und Gefühle weckt. Mark Twain war gefesselt von der Handschrift, zumindest von einer bestimmten Handschrift.

Mark Twain war der erste Schriftsteller der Welt, der eine Schreibmaschine benutzte. In einem Schaufenster in Boston hatte er die neuartige Maschine gesehen, eine Remington – die weltweit erste, kommerziell nutzbare Schreibmaschine. Fortan schrieb Mark Twain seine Manuskripte damit.

Der erste Roman, der mittels einer Schreibmaschine zu Papier gebracht wurde, war „Tom Sawyers Abenteuer“. Nie zuvor hatte ein Verlag ein mit Maschine geschriebenes Manuskript erhalten. Die Handschrift hatte verloren. Wieder einmal.

Hannelore Klein: „Ich habe weder eine Schreibmaschine, noch habe ich ein Internet oder etwas anderes. Ich schreibe immer mit meiner eigenen Handschrift.“

„Na auf jeden Fall ist es unheimlich persönlich und berührend und natürlich hat man da auch gleich einen völlig anderen Bezug zu diesem Brief als wenn da – keine Ahnung – ein abgetippter Brief drin liegen würde. Ja und natürlich hat das eine völlig andere Bedeutung und man ist gerührt.“

Hedwig Hübner: „Ich habe Gottlob eine sehr schöne Schrift, die habe ich auch behalten. Da freut sich auch jeder, wenn sie von mir was bekommen.“

Brandau: „Mit der Handschrift bin ich einfach flexibler. Also das liegt dann auch am tippen, dass ich schneller schreiben kann, langsamer schreiben kann.“

Max: „Ich weiß noch, dass ich gerade in der Grundschule und in meinen früheren Schuljahren sehr, sehr gerne mit Füller geschrieben habe und mich ganz nah an meine Schrift rangelegt habe, also ich hab mit meinem Kopf auf dem Arm liegend geschrieben und habe es sehr gemocht zu sehen, wie Buchstaben entstehen. Auf dem Blatt. Und dann sind komischerweise meine Buchstaben auch bauchiger geworden und runder.“

Papier. Ein Stift. Und die Hand, die den Stift über das Papier führt. Striche, Punkte, Häkchen. Aus Strichen entstehen Buchstaben, Wörter, ganze Sätze. Die Striche und Punkte erzählen ganze Geschichten. Sie erzählen das, was die Worte hergeben. Und sie erzählen etwas über den Menschen, der sie aufgeschrieben hat. Der Mensch, der sie schreibt, hinterlässt Spuren. Handschrift verleitet Menschen zum Schwärmen:

Samuleit: „Schreiben können halte ich für genauso wichtig, wie ein Musikinstrument spielen können oder malen können oder mit bestimmten verschiedenen Materialien etwas formen können. Das gehört eigentlich zur musischen Erziehung des Menschen.“

Handschrift beginnt schon vor der Schule. Beim Malen und Krakeln auf dem Papier, beim spielerischen Umgang mit Stiften. In der Schule dann wird es ernst, wie Sulamith Samuleit von der „Arbeitsgruppe Schülerschriften“ beobachtet hat:

Samuleit: „Vorher konnten die Kinder sich frei bewegen, wie sie wollten. Und auch wenn sie gemalt haben, dann konnten sie das so machen, wie es ihnen entsprach. Und jetzt auf einmal müssen sie vorgegebene Formen nachbilden und zwar vorlagengetreu. Und dann sollen sie auch noch bestimmte Linien einhalten. Das ist also wirklich eine Schwierigkeit. Es gehört schon einiges an pädagogischem Geschick dazu, dafür zu sorgen, dass die Kinder eben diese Kunst zu schreiben, so lernen, dass sie nicht dabei verkrampfen, sondern dass sie dann auch mit dieser Methode locker umgehen können, auch wieder im Vergleich dazu, wie man ein Instrument erlernt. Das hört sich erstmal furchtbar an, wenn ein Kind lernt, auf einer Geige herumzukratzen. Und erst, wenn man eben fleißig geübt hat, dann kann der Begabte irgendwann mal damit spielen und sich darüber auch ausdrücken. Und so sollte es bei Handschriften auch sein.“

Die philologische Fakultät der Freien Universität Berlin. Ein kleines Zimmer am Ende eines langen Ganges. Dr. Jörg Jungmayr öffnet die Tür. Bücherwände. Zeitlos. Ein großer Monitor lenkt von den Schriften ab. Über den Bildschirm fließen Naturbilder. Eine Idylle nach der nächsten. Die Zeit steht still, so scheint es.

Jungmayr: „Eine Handschrift alten Stils, gehen wir mal ins mittelalterliche Kloster zurück.“

„Da konnte ein einzelner Schreiber Mönch durchaus fünf bis zehn Jahre sitzen. Und dann wurde das noch manchmal wunderschön ausgestattet mit Illustrationen. Das war also etwas, was ganz langsam funktionierte.“

„Ich gestehe ganz offen, dass mir unter all dem, was mit körperlicher Mühe verrichtet wird, die Arbeit der Schreiber nicht zu Unrecht noch mehr gefällt, wenn sie nur korrekt abschreiben. Durch das Durchlesen der Heiligen Schriften bilden sie zum einen ihren Geist auf heilsame Weise, zum anderen verbreiten sie durch das Abschreiben weithin die Anordnungen des Herrn.“

Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator, genannt Cassiodor, ein römischer Staatsmann und Gelehrter, gründete ein Kloster in Kalabrien, stattete es mit einer Bibliothek aus und bescherte den Mönchen eine neue Aufgabe – das Abschreiben von Handschriften. Seine eigene Handschrift wird der der Mönche in den Schreib- und Kopierstuben mittelalterlicher Klöster entsprochen haben: die Schrift nicht als individueller Ausdruck, sondern als etwas Schönes, Erhabenes, Besonderes – oberstes Kriterium waren die Regeln der Kalligraphie, der Kunst des schönen Schreibens. In seinen „Unterweisungen in den göttlichen und weltlichen Wissenschaften“, wahrscheinlich um 551 entstanden, erklärte Cassiodor, was das Abschreiben von Handschriften bedeutete:

„Welch glückliches Vorhaben, welch lobenswerte Geschäftigkeit stellt es dar, mit der Hand den Menschen zu predigen, mit den Fingern die Zungen zu lösen, schweigend den Sterblichen das Heil zu bringen und gegen die unfairen Verlockungen des Teufels mit Schreibrohr und Tinte zu kämpfen. So viele Wunden nämlich werden dem Teufel zugefügt, wie der Schreiber Worte Gottes niederschreibt. So sitzt der Schreiber zwar an einem Ort, doch schreitet er durch die Verbreitung seines Werkes durch verschiedene Provinzen: Sein Werk wird an geheiligten Orten gelesen; die Völker hören, wie sie sich von einem schlechten Lebenswandel bekehren und Gott mit reinem Herzen dienen können. ... Als Mensch vervielfacht er die himmlischen Worte und in einem übertragenen Sinn, wenn es Recht ist, das zu sagen, schreibt er mit drei Fingern, was die heilige Dreifaltigkeit aus spricht. ... Wenn das Schreibrohr dahineilt, werden göttliche Worte niedergeschrieben, auf dass die Verschlagenheit des Teufels ausgelöscht wird, so wie dieser das Haupt des Herrn bei der Kreuzigung zerschmettert hat. ... Diesen Schreibern haben wir zur Ausschmückung der Handschriften auch gebildete Künstler beigestellt, damit ein schöner Anblick die Schönheit der Heiligen Schrift darüber hinaus schmückt. ...“

Eine Abschrift musste schön aussehen. Ein ästhetischer Genuss sein. Aber Kunst ist schwer, zu schwer für einen allein, gerade wenn sie sich vermehren soll. Arbeitsteilung beim „Kopieren“ im Mittelalter. Der Editionsphilologe Dr. Jörg Jungmayr:

Jungmayr: „Da hat sich dann so ein Rationalisierungsprozess eingesetzt. Die einen haben nur abgeschrieben, die anderen haben die Großbuchstaben ausgemalt und die dritten, wenn es denn eine aufwendige große Handschrift war ... Die haben es dann mit Malereien, mit so genannten Miniaturen ausgeschmückt.“

Karl der Große ließ die Gelehrten seiner Zeit die Werke der antiken Schriftsteller zusammentragen, um sie abzuschreiben. Die Gelehrten aus dieser Karolingerzeit wollten eine einheitliche lateinische Normsprache schaffen – und eine Normschrift, einheitlich und klar lesbar. Diese Schrift, bekannt als „Karolingische Minuskel“, wurde seit dem 9. Jahrhundert verwendet. Die Minuskeln, auch genannt die „Gemeinen“ sind Kleinbuchstaben. Die Karolingischen Minuskeln waren im gesamten Abendland verbreitet. Aus ihnen entwickelten sich die heutigen Kleinbuchstaben.

Jungmayr: „Und das wäre ein Beispiel für eine: das ist ein Faksimile eines Lutherbriefes, Reformator Martin Luther, für eine Individualschrift.“

Die Handschrift verändert sich. Dann, wenn man viel schreibt. Und nicht nur abschreibt, sondern eigenen Gedanken auf das Papier verhilft. Die edle, gleichmäßige Schrift in den klösterlichen Schreibstuben. Und jetzt die individuelle Handschrift, die schnell gezogene Feder, die lässig Tinte auf dem Papier oder Pergament verteilt. Die Buchstaben direkt aneinander, miteinander verbunden. Die Kursivschrift, wie der Fachmann sagt. Der Vorläufer der Schreibschrift, die wir in der Schule lernen. Das ist die Form. Schrift aber ist vor allem Inhalt. Die eigenen Gedanken auf dem Papier machten zum Beispiel Martin Luther schnell bekannt – und unbeliebt.

Jungmayr: „Das wäre also jetzt schon eine persönliche Handschrift. Und da könnten wir schon sagen, das ist so was wie eine Individualhandschrift, die mit einem Individuum verbunden ist.“
Luther, der weltberühmte Mönch, der die Geschichte so beeinflusst hat, malte die Buchstaben von eigener Hand auf das Papier. Wie sieht aus, was ein solcher Geist geschrieben hat?

Jungmayr: „Es ist eine durchaus gleichmäßige Handschrift, es gibt viel schlimmere Handschriften in der Zeit, wo man sich weinend auf den Boden wirft weil man nichts lesen kann...“

Die Unlesbarkeit einer Handschrift ist nur oberflächlich betrachtet ein Geheimnis. Das wahre Geheimnis liegt tiefer. Die Handschrift offenbart mehr als das Geschriebene. Das klingt nach Metaphysik. Eine einzelne Handschrift – das ist so ein bisschen wie ein Original, man kann sich dem Schreiber nah fühlen. Viele Handschriften sind gesammelte, ganz konkrete Geschichte. Der Literaturwissenschaftler Thomas Gierl:

Gierl: „Faszinierend ist natürlich, dass man hier dem Autor noch wesentlich näher zu sein scheint, als in einer gedruckten Version. Wenn es sich um Handschriften handelt, die den Entstehungsprozess widerspiegeln, dann fühlt man sich vielleicht sogar dem Entstehen dieses Werkes ganz nah, es ist ein Zeitfenster zurück, es kann eine Nähe zu dem Urheber von Werken, die man sonst nur in gedruckter Version vor sich liegen hat, ergeben… Es reicht dann auch in den Bereich der Schwärmerei dann.“

Der Dr. Jungmayr schwärmt wirklich. Er schmunzelt, wenn man es merkt, und redet schnell weiter. Ein kleiner älterer Herr mit weißem Haar in seinem Element, wenn er über die Geschichte der Handschrift spricht, die für ihn 3000 Jahre vor der Zeitrechnung beginnt:

Jungmayr: „Beschrieben hat man alle Materialien, die man hatte, Holz, Metall Ton... Eines der größten Epen der Weltliteratur das Gilgamesch-Epos aus Babylon, ist auf Tontafeln gebrannt überliefert worden. ... Und der eigentlich dauerhafte Beschreibstoff ist dann Papyrus geworden oder der Papyrus geworden, ... der ähnliche Qualitäten aufweist wie unser heutiges Papier.“

Der Ursprung des Schreibens aber ist in Stein gemeißelt. Nicht nur in der Hieroglyphensprache der Ägypter.

Jungmayr: „Der berühmte Stein von Rosette. Ein ägyptischer Text, wo man griechische und lateinische Übersetzung hatte.“

Die Schrift hatte sich entwickelt, die Bedeutung der alten Zeichen war verloren gegangen. Durch die beiden Übersetzungen konnten viele der Überlieferungen wieder entschlüsselt werden.

Jungmayr: „Der Weg führt von der ägyptischen Symbolschrift zum Griechischen und dann zum Lateinischen. Und die lateinische Schrift, die sich dann im Bereich des römischen Imperiums entwickelt hat, ist die Grundlage für unsere heutige Schrift.“

Der Doktor springt auf und zieht Beispiele aus den Regalen. Kopien von Goethe und Luther im Vergleich:

Jungmayr: „Hier haben wir den Brief aus dem frühen 16. Jahrhundert. 1525, nee 1528, und das ist ein Brief von 1798. Das ist ein bisschen eine steilere Schrift, eine Schrift, die schon ziemlich an dem dran ist was wir heute Sütterlinschrift, was also unsere Großmütter, unsere Urgroßmütter geschrieben haben...“

Klein: „Das ist, glaube ich, auch eine Generationsfrage, wie mein Bruder, der ist Jahrgang 19 – die ganze Generation, die hat kaufmännisch geschrieben, akkurat bis zum Gehtnichtmehr, wunderbar. Das findet man heute leider nicht mehr. Wahrscheinlich, wenn die Handelsschule gehabt haben. Und das war auch früher allgemein üblich, dass man den Schriftgrad beschrieben hat, da gab es ja Unterricht.“

Gierl: „Wenn du früher einen Brief geschrieben hast, dann hast du dir schon einiges überlegt, was du schreibst, wie du schreibst, du hast versucht, eine schöne Handschrift hinzulegen, es sollte schön lesbar sein, es sollte auch markant sein, deine Schrift.“

In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde der Buchdruck erfunden.

Jungmayr: „Berühmtestes Beispiel ist die Gutenberg-Bibel, die so produziert worden ist. Das ist heute eine mit der teuersten Antiquitäten, die man auf dem Buchmarkt kaufen kann. So eine Gutenberg-Bibel ist viele Millionen wert. Da ist es so gewesen, der Setzer hat gedruckt, und dann wurden die fehlenden Buchstaben von Hand eingesetzt und dann hat ein Illustrator das wunderschöne Rankenwerk drum herum gemalt.“

Jungmayr: „Ich zeig Ihnen das einmal, ... genau, das wäre also zum Beispiel ein Beispiel für einen frühen Buchruck, die so genannte Frakturschrift, die hat sich aus der gotischen Buchschrift, wie sie in den Klöstern verwendet wurde... Fraktur oder altdeutsche Schrift, genau.“

Die Schrift hatte das wieder gefunden, was durch die individuelle Handschrift verloren zu gehen drohte – die Lesbarkeit. Und überhaupt eine genormte Sprache. Die neue Druck-Schrift als Vermittler zwischen den Regionen.

Zwar waren die Buchstaben überall im Grunde gleich. Aber die Worte nicht. Die wurden nämlich so geschrieben, wie sie gesprochen wurden. Überall anders.

Jungmayr: „Und der erste Schritt einer Normierung und zu einer einheitlichen Hochsprache ... war die Bibelübersetzung von Luther, der ein großes Interesse daran hatte, dass seine Übersetzung von möglichst allen gelesen oder vorgelesen wurde.“

Die Handschrift verliert. Bücher werden jetzt gedruckt, nicht mehr abgeschrieben. Der Druck ist schneller und billiger. Genau das Richtige in einer Zeit wachsenden Wohlstands. Das Bürgertum kann sich Bildung leisten. Zeit zum Lesen und Schreiben lernen. Etwas Merkwürdiges geschieht: Immer mehr Menschen können schreiben, aber die Glaubwürdigkeit des handgeschriebenen Wortes verliert. Glaubwürdig heißt jetzt: gedruckt. Eine spätere Erfindung macht das nicht besser:

Die Schreibmaschine. Der ultimative Angriff auf die Handschrift. Briefe werden gedruckt. Individualität hat das Nachsehen. Persönliche Mitteilungen erhalten durch die gehämmerten Buchstaben einen offiziellen Charakter. Jeder kleine Text kommt wie gedruckt daher. Aber doch, auch eine Schreibmaschine hinterlässt Spuren:

Jungmayr: „Ich hoffe, dass ich gleich ein Beispiel finde, ist nämlich ein Brechtgedicht. Schauen sie, das meine ich damit. So eine Produktionsform, wie sie Brecht vorgelegt hat. Natürlich können sie sagen, da schreibt er etwas in die Maschine rein, aber wenn man genauer hinguckt, dann fängt er schon mit Maschine an zu korrigieren, ...“

Die Schreibmaschine. Was sie schrieb, war leichter zu lesen. Und auch glaubhafter – so der weit verbreitete Irrtum. Die Handschrift jedenfalls hatte wieder verloren. Schrift wurde nicht nach Schönheit und individuellen Feinheiten bewertet, sondern nach Anschlägen pro Minute. Und nach der verwendeten Menge Tipp-Ex. Mit der Stille in den Büros war es endgültig vorbei: Typenhebel und die Glocke, die das Ende jeder Zeile ankündigte wurden zum Grundhämmern bürokratischer Betriebsamkeit.

Kein Platz für Sinnlichkeit. Kein Platz für Kreativität. Kein Platz für eigene Gedanken. Der Geist braucht etwas anderes, die Ruhe der Handschrift. Das meint der Hamburger Dramatiker Carsten Brandau:

Brandau: „Wenn ich eine handgeschriebene Seite habe, eine handgeschriebene Szene, dann kann ich die für mich lesen. Dann habe ich da eine Entwicklung drin, dann sehe ich einfach wo die Linie langgeht, wo es langgeht. … Durch dieses normierte Bild des gedruckten Schriftbildes finde ich das teilweise sehr schwer und denke für mich, daß da reingearbeitet werden muss, also noch deutlicher die Linie reinkommen muss, und das ist halt ... also wenn man mit der Hand schreibt, braucht man nicht soviel davon. Wenn man mit dem Computer schreibt, eine Seite hat, die genormt ist, muss es noch genauer sein mit der Linie. Und das ist einfach die Veränderung, die ich dann vornehme.“

Der Computer. Die nächste große Erfindung, die das Schreiben mit der Hand aussterben lässt, Fehler ungesehen überschreiben kann und für den Philologen keine Spuren mehr hinterlässt. Und der Dramatiker von heute kann nicht mehr ohne den Computer. Der Beginn des Schreibens verlangt immer eine Entscheidung – mit der Hand oder mit der Tastatur:

Brandau: „Eigentlich nur mit der Hand. Also ich schreibe mit der Hand und schreibe es dann in den Computer rein. Also ich schreibe ziemlich schnell in den Computer rein, also ich schreibe ungefähr eine Seite mit der Hand und tippe die dann ab und drucke die dann aus und habe es dann als Papier liegen. Aber ich schreibe es erst mal ordinär mit der Hand.“

Theater ohne handgeschriebene Sprache funktioniert nicht.

Zumindest nicht für ihn. Carsten Brandau braucht die Unterschiedlichkeit der Buchstaben als Ausdruck. Mit der Hand geschrieben, werden Worte zu Gefühlen. Mit dem Computer geschrieben, ist jedes Wort gleich.

Brandau: „Wenn jemand grölt oder krakelt, schreit, schnell redet, dann ist es einfach schnell und klierig geschrieben. Äh Kliere, sagt man doch. Einfach unleserlich… Und wenn das dann meinetwegen eine ruhige sanfte innige Szene ist, dann sind dann halt die Buchstaben geschwungen. Also wie man es sich im Klischee vorstellt, so ist es dann einfach auch halt. Dass irgendwie Liebesbriefe von jungen Mädchen, wo die Buchstaben dann geschwungen sind oder so etwas, das obwohl ich so etwas nicht schreibe dann doch einrutscht in den Text, dass ich einfach anfange die Buchstaben zu malen, weil es dann besser geht.“

Die Buchstaben malen. Der Gedanke dürfte Sulamith Samuleit, gefallen.

Samuleit: „Ich schaue immer, was sind die hervorragenden Charakteristika der Handschrift. Da ist mir zum Beispiel die Bewegungsspur wichtig, ich schaue also, ist das eine unruhige Schrift oder eine statische, ist das jemand, der ganz gehetzt, eilig etwas hinschreibt oder der sich viel Zeit lässt, Formen auszumalen. Das ist schon etwas, woraus ich dann Schlussfolgerungen ziehe, dass so jemand nicht nur beim Schreiben, sondern auch sonst in seinem Leben jemand ist, der immer Tempo, Tempo macht oder jemand, der sich Zeit nimmt, die Form zu wahren. Und dann zum Beispiel auch langsamer, aber sorgfältiger arbeitet.“

Sulamith Samuleit ist Graphologin. Das Deuten der Handschrift ist ihr Beruf. Die individuelle Handschrift als Spiegel der Seele. Ein Stück Papier, flüchtig geschrieben, gibt ihr Auskunft über Menschen. Auch heute noch. Die Handschrift bleibt wichtig – nicht nur für den Dramatiker.

Samuleith: „Ich sehe eher die Vernachlässigung der Buchstaben, das ist hier die Charakteristik, also dass er Details vernachlässigt. Und auf eine Art und Weise, die mir nicht so gefällt. Es beeinträchtigt die Lesbarkeit der Handschrift, ein bisschen mehr Sorgfalt wäre ganz gut. Er überspringt manches, was er nicht so gut hinkriegt. Und dass er von daher auch lieber im Großen plant, weil die Ausführung im Detail ihm dann nicht so gelingt, wie es gut wäre.“

Die Handschrift wird verdrängt. Aber sie stirbt nicht aus. Ein Einkaufszettel lässt sich nicht so schnell ausdrucken. Der Scheck muss per Hand unterschrieben werden. Und ein Autogramm wird dann erst wertvoll, wenn es keine Kopie ist. Aber Buchdruck und Computer haben der Handschrift zugesetzt. Und irgendwie auch die Gesellschaft.

Samuleit: „Ich denke, es ist dieser 68er Umschwung, dass man eben jetzt sich so an sozialen Normen orientieren, dass das aufgebrochen wurde zu ‚Jeder ist einzigartig; wir sind alle frei, wir wollen keine Bindungen‘ – auf diese Art und Weise hat sich durchaus auch der Grundschulunterricht anders ausgerichtet. Seit dieser Zeit haben die Schüler weniger sorgfältige Handschriften, weniger normgerecht. Die Schriften sind sich weniger ähnlich. Sie haben dabei aber auch an Stabilität verloren. Die Kinder heute haben weniger Orientierung und weniger emotionale Sicherheit als die früheren Generationen, die noch stärker in die soziale Normierung eingebunden waren.“

Krüger: „Klar, hast du bestimmt Vorurteile, vielleicht wenn ich mir nicht den Namen angucke, desjenigen, der was geschrieben hat, sondern nur aus der Handschrift versuche, etwas rauszulesen, oder mir ganz automatisch darüber Gedanken mache – klar kommt dir da das eine oder andere. Beispiel: braves Mädchen mit Schönschrift und einem schönen Schlengel über ‚u‘. Aber im Normalfall sind das erste Gedanken. Letztlich orientierst du dich am Inhalt, an der Art und Weise, wie jemand schreibt. Das hat letztendlich größere Bedeutung für dich als nur die reine Schrift.“

Klein: „Ich habe mein Leben, so wie ich denke und fühle, das bringe ich gerne zum Ausdruck, nicht übertrieben, aber ich schreibe gern und dadurch ist meine Schrift auch noch so, dass die Leute sagen, was, Sie sind 78 oder 79. Das ist noch akkurat, eine sehr akkurate Schrift. Wenn man das auch nicht pflegt, wird die Schrift dann auch sehr liederlich, dann sehr hinfällig. Also es ist nur eine Akkuratesse da.“

Hübner: „Also ich schreibe noch, ich schreibe sehr gern. Und wenn es möglich ist, und ich vor allem Lust dazu habe, schreibe ich noch vor allen Dingen zu besonderen Anlässen.“

Gierl: „Im E-Mail-Zeitalter ist das alles vollkommen irrelevant, es verliert auch alles an Verbindlichkeit. Du schreibst, wie du sprichst, du kümmerst dich kaum noch um wohlklingende Formulierungen, zum Teil gibt es dann irgendwelche Emoticons, die dir dann auch noch ersparen, dass du ironisch formulierst, weil du einfach nur dein komisches Ironie-Emoticon hintenranhängst. Es wird alles sehr lässig und lässlich. Das passiert auch beim Schreiben.“

Goethe hatte seinen Eckermann. Brecht seine Frauen. Wir den Computer. Kostbare Handschriften werden aus unserem Zeitalter wohl nicht mehr überliefert werden. Die Bits und Bytes eines Manuskriptes, so gut es auch sein mag, werden niemandem interessieren. Elektronische Zeugnisse sind immateriell. Tastendrücke nicht für die Ewigkeit gemacht. Eine Korrekturtaste hinterlässt keine Spuren, ein Tintenklecks schon. Die Technik beraubt uns der Sinnlichkeit. Aber ausgerechnet der Editionsphilologe Jörg Jungmayr braucht den Computer – für Besonderes: Ganz alte Schriften, die wohltemperiert in den Archiven der Museen gepflegt werden müssen, bekommt man eben nicht so einfach zu Gesicht. Zumindest nicht als Original.

Jungmayr: „Darf ich ihnen das wieder vorführen. Da gibt's ein Internetportal mit... Da kann man sich. So, da geh ich zu der virtuellen Bibliothek und da kann ich mir so eine Schmuckhandschrift aufrufen...“

Ein altes Buch tut sich auf. Der Text von Großbuchstaben umrankt. Auf dem Bildschirm scheinen Spinnweben und Staub über vergilbte Blätter zu schweben. Ein Dokument aus dem Mittelalter, als das Schreiben und Lesen noch den Mönchen vorbehalten war. Die Welten treffen aufeinander und verbinden sich in diesem Moment in dem kleinen Zimmer von Dr. Jungmayr. Eine jahrhundertalte Handschrift auf dem Bildschirm, über den noch vor Kurzem beruhigende Naturbilder flossen. Ganz von allein.

Jungmayr: „Der Computer ist natürlich ein großer Verführer. Es sieht ja alles so perfekt aus. Ich kann das formal so wunderschön... Ich habe heutzutage habe ich einen unglaublich reichen Schriftfont. Ich kann das typografisch ganz herrlich gestalten. Jeder denkt, es ist fertig, und dabei fehlt die intellektuelle Kontrolle. Wenn man dann oft genau guckt, ist zwar die Form perfekt, aber der Inhalt keineswegs. Das ist auch die große Verführung von Seminararbeiten, die Studenten liefern. Sieht ganz schön aus. Und dann liest man, und dann stimmt's hinten und vorne nicht, denn das Korrekturprogramm kann ja keine Syntax, keine Sinneinheiten korrigieren.“

Aber etwas kann der Computer, kann das Internet nicht ersetzen. Dieses Etwas beschreibt Jörg Jungmayr in seinem Zimmer zwischen Computer und Bücherregalen bis zur Decke so:

Jungmayr: „Wenn ich also so eine schwere Schwarte in die Hand nehme, und die Holzwürmer, die quietschen wenn man da so einen Band auseinander öffnet. Wenn man diesen Geruch von Farbe, von Papier oder von Pergament in dem Fall und vieles mehr hat, ist eine ganz andere Optik und Haptik.“

Ein Blick in den Briefkasten verrät eine Sehnsucht: Viel Post. Rechnungen, Werbung, Behördenschreiben. Und ein Brief, der mit der Hand adressiert wurde. Den öffnet man entweder, von Neugier gepackt, sofort. Oder man spart ihn sich auf, um ihn in Ruhe zu lesen, wer da die eigene Handschrift bemüht, um sich mitzuteilen. Die Erwartungen sind groß. Es ist eine Sehnsucht nach dem Persönlichen, dem Unverwechselbaren. Die Sehnsucht nach Zeilen nur für sich allein.