Kritik

Putin, Lear und Haribo

Klaus Maria Brandauer als Lear am Wiener Burgtheater
Klaus Maria Brandauer als Lear am Wiener Burgtheater © picture alliance / dpa / Hans Klaus Techt
Von Tobias Wenzel |
Die "TAZ" hinterfragt Putins Motive bei den Freilassungen einiger seiner Kritiker. Die "FAZ" verreißt eine "König Lear"-Inszenierung, und die "FAS" bringt einen Nachruf auf Haribo-Chef Riegel.
"Wovor haben Sie sich als Kind gefürchtet?", fragte die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG den scheidenden Chef des Hanser-Verlags, Michael Krüger. "Wenn meine Großmutter gebetet und Gott angemeckert hat, dachte ich, jetzt kommt der durchs Fenster und geigt ihr mal die Meinung."
Wen oder was fürchten wohl russische Kinder? Auch Gott? Oder doch eher Putin? Der inszeniert sich nun als gottesgleich und mild. "Chodorkowski ist schon frei, Pussy Riot und die Greenpeace-Aktivisten kommen bald frei. Ist Wladimir Putin in Weihnachtsstimmung?", fragte zu Wochenbeginn die TAZ und Friedrich Küppersbusch antwortete: "Ja, und Ostern sammelt er alle Eier wieder ein. Scheint, als ob die weltweiten Ungemütlichkeiten mit den Winterspielen in Sotschi Wirkung zeigen. Und danach kann man alles wieder zurückwillküren."
Die russischen Machthaber würden den "ganzen Ruhm" von Sotschi "einheimsen", prophezeit der Schriftsteller Viktor Jerofejew im letzten SPIEGEL dieses Jahres, "und das heißt, wir werden diejenigen feiern, die Pussy Riot zu Lagerhaft verurteilten, Chodorkowski zehn Jahre hinter Gittern hielten". Doch zwei Seelen wohnen, ach!, in Viktors Brust, der als Kind in Sotschi schöne Urlaube verbrachte, zwei Stimmen streiten nun in seinem Kopf. Und so widerspricht die hoffnungsvolle: Chodorkowski und die Mitglieder von Pussy Riot seien doch freigelassen, die Olympischen Spiele von Sotschi würden nun also "leichter atmen können". "Ach was", fällt die kritische Stimme der hoffnungsvollen ins Wort. Und das Selbstgespräch Jerofejews nimmt seinen Lauf. Hoffentlich nicht bis in den Wahnsinn.
Die Feuilletons dieser Woche standen nicht nur im Zeichen geglückter Freilassungen. Es war auch die Woche der gescheiterten Weltuntergänge. "Davon geht die Welt nicht unter", rief der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier enttäuscht in der FAZ aus, als hätte er sich zu Weihnachten vor allem die Apokalypse gewünscht. Er hatte im Wiener Burgtheater Peter Steins Inszenierung des "König Lear" gesehen, mit Klaus Maria Brandauer in der Hauptrolle. Stadelmaier, der einst ein Bewunderer des Gespanns Stein-Brandauer war, vor allem in den Inszenierungen von "Ödipus" und "Wallenstein", zeigte sich nun tief enttäuscht vom "König Lear":
"Es riecht hier sofort nach sauber gezeichneter theatralischer Ur-Suppe. Wobei sowohl die Standbein-Spielbein- wie die Sprach- und Sprechfertigkeit des Personals jedwedem 'Ur' hohnspricht. Als tänzelten lauter hochgelenke Bärenfell-Briten durch einen Renaissancesalon, der zu einem vorgeschichtlichen keltischen Kostümfest geladen hat. Und da wirkt es schon sehr sonderbar, aber äußerst dekorativ, wenn Brandauers Lear nur so aus einer Art Zottellaune heraus kieksend und bramarbasierend und hochfahrend mit der Peitsche durch die leere Raumluft haut, sich in einen Sessel fläzt und mit einer Landkarte Reichteilung und Töchterexaminierung treibt, als habe er nur mal in ein besonders saftiges Stück überm Spieß gebratener Spaß-Lende gebissen. König Zier. Doch davon geht die Welt nicht unter."
Ja, wovon denn dann? "Heuschrecken fressen den Menschen die Nahrung weg", schrieb Willi Winkler in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG über das nun als Faksimile-Ausgabe erschienene Augsburger Wunderzeichenbuch aus dem Jahr 1552, "die Pest bricht aus in vielerlei Gestalt, ständig regnet es Unheil vom Himmel, der doch den Gerechten taugen sollte, Erdbeben köpfen die Skyline mittelalterlicher Städte, dass selbst Osama bin Laden grün vor Neid geworden wäre." Die Botschaft des reich und erschreckend anschaulich illustrierten Buchs laut Rezensent: "Das Ende war noch nie so nah wie heute". "Heute", also damals, 1552. Winkler ist hin und weg vom Buch. Vielleicht auch, weil er es überlebt hat. Schrieb und dichtete er doch abschließend: "Die Apokalypsen kommen und gehen, die Welt, sie mag trotzdem nicht untergehen."
Die Welt lebt. Dr. Haribo ist tot: Hans Riegel aus Bonn, "Beherrscher der Goldbären und König aller Lakritzen". Als die Musikkritikerin Eleonore Büning im Herbst erfuhr, dass der Süßigkeiten-Fabrikant 90-jährig gestorben war, erfüllte sie, die in und um Bonn aufgewachsen war, das so gar nicht mit Wehmut. "Ich war leider ganz froh", gesteht sie in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. "Das hatte er nun davon! Dieser schießwütige Hundemörder! Dieser Kinderschreck! Millionen Kinder hat er mit seinem Zuckerzeugs vergiftet, und Erwachsene ebenso!" Dann erzählt Eleonore Büning, wie sie als Mädchen mit ihrem Hund Jockel an der Villa des Alten Hans Riegel und an dessen Wildgehege vorbeispazierte. Denn der Mann war leidenschaftlicher Jäger. Allerdings auch Eleonore Bünings Hund.
"Das Wild wurde also damals wirklich ganz wunderbar gratis trainiert und in Schuss gehalten von meinem guten Jockel", schreibt sie, "trotzdem drohte ihm die Todesstrafe, denn dauernd stand der Herr Riegel am Tor, lauerte uns auf, fuchtelte mit der Büchse und schrie, er werde den dummen Köter erschießen, erdrosseln, vergiften, abknallen, wenn er ihn nur erwische." Er sei dann an Leukämie gestorben, erinnert sich die Musikkritikerin. (Nicht Hans Riegel, sondern ihr Hund.) "Vielleicht aber auch an Lakritz", ergänzt sie. "Denn wir hatten uns beide, wider besseres Wissen, gerne mit Haribo vollgestopft".