Kritik der Musikkritik

Von Eleonore Büning · 24.01.2011
Seit gut 15 Jahren ist die Kritik Neuer Musik in den Feuilletons der deutschen Tageszeitungen fast ausgestorben. Die alten Verhältnisse werden nicht zurückkehren, da der Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit gerade überall neu definiert wird.
"Was ich nicht rezensiere, das hat nicht stattgefunden", pflegte mein Kollege Heinz-Josef Herbort zu sagen. Herbort war Musikkritiker der "Zeit". Er liebte diesen Satz. Selbstredend hat er ihn aber immer nur zum Scherz gesagt. Heute weiß ich, dass außer einer Portion Selbstironie auch noch ein prophetischer Kern darin gesteckt hat. Noch Mitte der 90er rechnete nämlich Herbort (der übrigens, ebenso wie sein Kollege Hans Heinz Stuckenschmidt von der "F.A.Z.", nebenbei komponierte) zu den Musikkritiker-Päpsten in Deutschland. Seither, seit gut 15 Jahren also, ist die Kritik Neuer Musik in den Feuilletons der deutschen Tageszeitungen fast ausgestorben. Was ist da passiert?

Zunächst einmal betrifft ja diese Verkümmerung des Rezensionswesens nicht nur die Neue Musik, sie betrifft alle schönen Künste. Das liegt daran, dass der Platz im Blatt immer weiter schrumpft. Die Zeitungsbranche steckt in einer Krise. Das Anzeigengeschäft ist ins Internet abgewandert, und das Meinungsbildungs-Geschäft inklusive kritischem Diskurs folgte dem auf dem Fuße. Für die Neue Musik hat diese Krise der Printmedien zur Folge, dass außer "Donaueschingen" heute keines der großen Neue-Musik-Festivals mehr regelmäßig von den Feuilletons öffentlich begutachtet und durchdekliniert wird.

Und die beim jungen Publikum so überaus erfolgreichen neuen Festivals - "Ultraschall", "Eclat" oder "Maerzmusik" - können dankbar sein, wenn sie, außerhalb der Musikfachpresse, noch in einer kleinen Meldung auftauchen. Das ist die Lage. Dabei ist allen Beteiligten längst klar, dass einfache Schuldzuweisungen witzlos geworden sind. Es handelt sich ja nicht um eine vorübergehende Konjunkturkrise, die wir nur aussitzen müssten.

Die alten Verhältnisse werden nicht zurückkehren. Der Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit wird gerade überall neu definiert, die Kommunikations-Strukturen für das gedachte und geschriebene Wort ändern sich von Woche zu Woche, bekannte Wege werden gekappt, Verbindlichkeiten aufgekündigt, bewährte Verträge werden über den Haufen geworfen, angefangen beim Urheberrecht, aufgehört bei der Selbstregulierung von Angebot und Nachfrage.

Vergleichbar ist dieser Paradigmenwechsel, den das Internet auslöst, vielleicht nur jener anderen Revolution, die vor rund 100 Jahren stattfand: als die technische Reproduzierbarkeit sich durchsetzte, als die Musik sich elektrifizierte, als die Bilder laufen lernten. Und siehe da: Damals erlebte auch die Neue Musik plötzlich eine unerhörte Blüte. Die Zwölftonmusik wurde "erfunden", der Blues und der Swing kamen auf. Das lässt doch hoffen!

Noch vor Kurzem waren die Komponisten der Neuen Musik eigentlich ganz zufrieden damit, dass sie so wenig Publikum haben. Die Argumentation, die diese Bewohner des Musik-Elfenbeinturms in ihrem Selbsterhaltungstrieb entwickelten, lautet etwa so: "Das, was wir erschaffen, hat einen hohen Wert. Es ist resistent gegen kommerzielle Verwertung. Neue Musik bildet eine letzte Insel der Seligen, auf welche die Medien keinen Zugriff haben."

In den letzten 15 Jahren haben sich diese Reden als Ideologie entlarvt. Die Insel der Seligen löst sich auf. Für den jungen Komponisten, den Sampler und Aktionskünstler, der alle seine Produkte filmt, kommentiert und im Netz dokumentiert, schlägt jetzt Quantität plötzlich um in Qualität. Er sagt: "Im Konzertsaal erreiche ich nur 20 Hörer. Im Netz erreiche ich 1500."

Für den älteren, der immer noch festhält am geschlossenen Werkcharakter, gäbe es gar keinen Grund zur Sorge, wäre da nicht die dumme Anbetung der Quote; er verweist gerne auf die absoluten Zahlen und predigt Gelassenheit: "Neue Musik braucht Zeit, um sich durchzusetzen. Sie braucht Wiederholung. Noch zur Zeit Schönbergs haben viel weniger Menschen sich dessen Musik angehört, als heute. Ja, wir erreichen heute gleich bei der Uraufführung viel mehr Ohren, als die Kollegen damals." Na also! Es geht voran!

Eleonore Büning, Musikwissenschaftlerin und Journalistin, zählt zu den renommiertesten deutschen Musikkritikern. Geboren 1952 in Frankfurt am Main, aufgewachsen in Bonn, studierte sie in Berlin Musik-, Theater- und Literaturwissenschaften. Nach ihrer Promotion über Beethoven begann sie zunächst für Musikfachzeitschriften, dann für zahlreiche Zeitungen Kritiken zu schreiben, später produzierte sie auch Musiksendungen für den Rundfunk. 1994 ging Eleonore Büning zur Hamburger "Zeit", seit 1997 ist sie Musikredakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Berlin.