Kritik am Zeitgeist der indischen Gegenwart

Rezensiert von Claudia Kramatschek · 19.09.2006
Die indische Schriftstellerin Alka Saraogi, die 1960 in Kalkutta geboren wurde, gilt in der Hindi-Literatur als eine erneuernde Stimme. Ihr Roman "Umweg nach Kalkutta" führt von der Vergangenheit des 19. Jahrhunderts über Indiens Kampf um Unabhängigkeit bis in die Gegenwart. Im Fokus des Interesses steht dabei die Volksgruppe der Marwari.
1997 in Kalkutta: Indien rüstet sich, um den 50. Jahrestag der Indischen Unabhängigkeit in aller Feierlichkeit und mit allem Pomp zu begehen. Nur Kishor Babu, 72-jähriger Geschäftsmann und der Volksgruppe der Marwari zugehörig, der es zu Wohlstand und Ansehen gebracht hat und dessen Haus mit Marmor und allen Raffinessen gesegnet ist, fühlt sich nicht wohl: Denn seit der Bypass-Operation, die er vor kurzem erst hinter sich gebracht hat, ist er wie verwandelt.

Ein versehentlicher Schlag auf den Hinterkopf scheint wortwörtlich vergessene, alte Kanäle in seinem Inneren geöffnet zu haben, so dass sich Kishor plötzlich für die Vergangenheit statt für die Zukunft zu interessieren beginnt. Tagelang streift er, den seine Familie wegen seiner gestrengen Hand einen "Hitler" nennt, nun durch die Straßen und Gassen von Kalkutta, betrachtet die Geschicke der Menschen, liest alte Briefe und Tagebücher seiner Vorfahren – und er erinnert sich an seine Jugend in den 40er Jahren, als er hin und her gerissen war zwischen der Freundschaft zu Amolak, einem einstigen Gandhi-Anhänger, und Shantanu, der glühend den rebellischen Freiheitskämpfer Subhash Bose verehrte.

"Unweg nach Kalkutta" vereint somit mehrere Erzählungen und Zeiten zugleich: Denn der Roman führt über die 40er Jahre, in denen der Kampf um die Unabhängigkeit im Mittelpunkt steht, zurück bis in das 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit war Kalkutta noch die Hauptstadt der britischen Kolonialherrschaft und ein blühender Handelsort – wo jedoch selbst die gebildeten Inder als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden.

Dennoch träumen auch Kishores Vorfahren von Kalkutta. Als Erster verlässt sein Urgroßvater das kärgliche Rajasthan, wo die Marwaris beheimatet sind, um sein Glück und Geld in der Stadt im fernen grünen Bengalen zu machen. Saraogi – selbst eine Marwari – reflektiert somit auch die Geschichte ihrer Volksgruppe, die nunmehr in West-Bengalen 20 Prozent der Bevölkerung stellen – und wie einst die Juden geächtet und verhöhnt sind wegen ihres Reichtums und ihrer Liebe zu Handel und Geld.

Vor allem aber übt sie – im Spiegel der Vergangenheit – deutliche Kritik am Zeitgeist der indischen Gegenwart: Denn das Indien, in dem Kishor lebt, hat nach der Unabhängigkeit die einstigen Ideale von Freiheit, Gleichheit, den Traum einer Einheit in Vielheit ebenso vergessen wie Kishor seine einstigen Freunde Amolak und Shantanu. Und als er sie endlich wieder findet, ist klar: Er hat sie tatsächlich schon lange verloren.

Alka Saraogi vereint diese diversen Schichten und Zeiten zu einem traumwandlerischen Ganzen, in dem die Perspektiven ebenso wechseln wie die Frage, was ist Traum, was ist Realität. Zu Recht gilt sie in der Hindi-Literatur als eine der neuen und erneuernden Stimmen, denen es gelingt, die drängenden Fragen der indischen Gegenwart in sprachlich und formal kunstvoller Weise wiederzugeben.

Alka Saraogi: Umweg nach Kalkutta. Roman.
Aus dem Hindi von Margot Gatzlaff-Hälsig.
Suhrkamp Verlag 2006. 336 S., 22,80 Euro