Kritik am digitalen Kapitalismus

22.09.2008
Für Bernard Stieglers Buch "Die Logik der Sorge" ist der französische Originaltitel zutreffender: "Sorge tragen. Über die Jugend und die Generationen". Laut Stiegler leben wir im Zeitalter des digitalen Kapitalismus: Nicht der Takt der großen Maschinen, sondern Fernseher und Computerschirme haben heute die Massen fest im Griff. Die Diagnose ist nicht neu. Aber der französische Philosoph Bernard Stiegler liefert mehr als eine Klageschrift. Vielmehr schreibt er das kulturkritische Programm der philosophischen Linken fort.
"Die Logik der Sorge". Der deutsche Titel ist zumindest missverständlich. Wenn wir das Wort "Sorge" hören, denken wir zuerst ans "sich Sorgen machen", ans "Besorgtsein" über etwas. Das Buch heißt aber ursprünglich "Prendre soin", mithin "sich kümmern", etwas "pflegen", sich "bemühen um etwas", allenfalls "für etwas Sorge tragen".

"Prendre soin. De la jeunesse et des generations", so der Originaltitel. "Sorge tragen. Über die Jugend und die Generationen." Darum geht es tatsächlich in diesem Buch.

Aber es geht auch um den "Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien", wie uns der deutsche Untertitel verspricht. Bernard Stiegler erzählt von einer Gesetzesänderung, die gerade in Frankreich vollzogen wurde. Das Alter für die Strafmündigkeit bei bestimmten schweren Delikten (Mord, Raubüberfall) ist herabsetzt worden, damit jugendliche Gewaltverbrecher nicht mehr ungestraft davon kommen. Vor allem dann nicht, wenn es sich um Wiederholungstäter handelt.

Stiegler hält diese Gesetzesänderung für das Symptom einer gesellschaftlichen Krankheit. Da werden Jugendliche per Gesetz für mündig erklärt, weil ihre Eltern unmündig sind, sprich nicht in der Lage, ihre Kinder zu erziehen. Stiegler meint, viele Erwachsene seien inzwischen sogar außerstande, sich selbst zu erziehen, weil sie die Erziehungsfunktion im Haus an den Fernseher abgegeben haben.

Frankreichs Jugend, die große Mehrheit jedenfalls, sitzt seit Kindesbeinen stundenlang vor der Glotze im Kinderzimmer, während sich die Eltern im Wohnzimmer von einer anderen Glotze berieseln lassen. Oder im Arbeitszimmer schuften. Oder auswärts.

Der Fernseher als Erzieher. In Frankreich, so Stiegler, ein massenhaftes Phänomen. Und nicht nur bei den so genannten Unterschichten.

Unsere Kinder schauen zuviel Fernsehen und sitzen zu lange vorm Computerschirm. Die Diagnose ist nicht neu. Aber Stiegler liefert mehr als nur eine Klageschrift über die Zustände, vielmehr schreibt er das kulturkritische Programm der philosophischen Linken fort.
Nach Stieglers Diagnose leben wir im Zeitalter des digitalen Kapitalismus. Es ist nicht mehr der Takt der großen Maschinen, der das Leben der Massen beherrscht, wie zu Zeiten von Marx. Heute sind es Fernseher und Computerschirme, die diese Massen fest im Griff haben.

Vor den Bildschirmen werden willenlose Konsumenten herangezüchtet, die sich ihre Lebenszeit "vertreiben" lassen und glauben, beständig neue Dinge zu brauchen. Klingeltöne, Klamotten, Kosmetik, Autos… egal, Hauptsache teuer. Alles das muss man kaufen oder, falls man kein Geld hat, irgendwie besorgen. Notfalls per Raubüberfall.

Wer den Fernseher als "Generalerzieher" im Hause duldet, hat das Programm der Aufklärung begraben, meint Bernard Stiegler. Fernsehen ist eine passive Angelegenheit. Wer einschaltet nach dem Motto "Schaun' wir mal, was kommt", hat seine Souveränität als denkender Mensch bereits abgetreten. An den Programmchef des Kanals, denn der entscheidet, was der Zuschauer erfährt und was nicht und welche Waren er uns schmackhaft machen möchte im Auftrag der Konzerne.
Das Programm der Aufklärung, so wie es Kant formuliert hat (und Bernard Stiegler uns ins Gedächtnis ruft) dagegen lautet: "Wage zu wissen. Habe den Mut, Deinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Bilde Dir selbst ein Urteil."

Stiegler plädiert entschieden dafür, sein eigener "Programmchef" zu sein. Das hier ist ein Buch pro Lesen und contra Fernsehen. Auch pro Vorlesen. Eltern sollen sich mit ihren Kindern an einen Tisch setzten und ihnen Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Denn Erziehung, so Stiegler, hat in erster Linie mit der Weitergabe persönlicher Erfahrung zutun.

Der Autor steht in der Tradition von Michel Foucault, der wiederum ist bei Louis Althusser in die Schule gegangen, dessen bedeutendstes Buch (von 1965) heißt "Pour Marx". Der Name "Karl Marx" kommt in Stieglers Büchlein zwar so gut wie nicht vor, stattdessen werden Freud und Marcuse, Husserl und Derrida bemüht, aber eines steht für Stiegler außer Frage: Fundierte Kulturkritik ist und bleibt Kapitalismus-Kritik.

Eine radikale Kulturkritik. Wie in den Zeiten von Horkheimer, Adorno, Marcuse. Stiegler bläst offen zur "Schlacht der Intelligenz" gegen Dummheit und Faulheit. Gegen die Faulheit der Eltern, sich um die eigenen Kinder zu kümmern ("predre soin"). Gegen die Dummheit, sich in seinem Arbeitszimmer zu verschanzen, während man die Sprösslinge im Kinderzimmer den Klauen des digitalen Kapitalismus überlässt.

Erfreulicherweise ist Stieglers Buch bei uns fast zeitgleich mit dem französischen Original erschienen. Aber lags vielleicht am Tempo der Übersetzungsarbeit, dass die Logik des Textes mitunter zu wünschen übrig lässt? Oder hat der Autor selbst manchmal so nebulös formuliert, dass die Übersetzerin raten musste?

Wie dem auch sei. Dem deutschen Leser jedenfalls begegnen laufend Sätze, die, gespickt mit Kaskaden von Fremdwörtern, auch nach wiederholter Lektüre keinen Sinn erkennen lassen. Sehr schade für den hoch spannenden Inhalt. Etwas Vergleichbares von einem deutschen Autor gibt es nicht.

Rezensiert von Susanne Mack

Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Medien und Technik
Aus dem Französischen von Susanne Baghestani,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008,
190 Seiten, 10 Euro