Krisenherde

Projekt Weltvernunft vorerst gescheitert

Von Christian Schüle |
Die Welt steht in Flammen, plötzlich regiert allerorten die Barbarei, so scheint es. Im Namen des Heiligen wird gemordet und geraubt. Das gefährdet auch das Erbe Europas, ein Projekt der Vernunft, analysiert der Autor Christian Schüle. Trotzdem, meint er, gäbe es nur eine Art, wie der rationale Mensch der Barbarei um sich herum begegnen könne.
Zu den gleichermaßen erschütternden wie faszinierenden Widersprüchen der Gegenwart gehört, dass sich im vermeintlichen Zenit der Vernunft aufs Neue das Barbarische Bahn bricht. Wo man hinsieht, regiert der Irrsinn des Irrationalen: im Nord-Irak, in Syrien, in Gaza, in Libyen, Mali und der Ost-Ukraine. Es ist, als sei die Menschheit global betrachtet aus dem Tritt gekommen, als schlüpfte unterm Geschäftsmodell von rationaler Verwaltung, totaler Vernetzung und organisiertem Freihandel die wilde Wut des Verrohten hervor. In Gang gesetzt ist eine Agenda des Archaischen.
Die Vollendung des Projekts Weltvernunft scheint, bis auf weiteres, gestoppt. Und das heißt fatalerweise: Das große Erbe Europas kommt an seine Grenzen.
Wir vermeintlichen Zivilisations-Weltbürger haben heute zu lernen, dass östliche und orientalische Mythen eine andere Identität und Selbstbegründung verfolgen als Konsumgüter-Produktion, Parlamentarismus und Hochfrequenzhandel. Wir haben zu verstehen, dass totale Säkularisierung angreifbar macht und selbst der Kapitalismus höchst irrationale Schnäppchen schlägt.
Neue Ära grotesker Propagandalügen
Der Regress, den wir gerade zu erleben gezwungen sind, ist in erster Linie ein Einbruch des Heiligen in die Hegemonie des Rechts. Nichts ist leichter als die Berufung auf das Heilige. Was als heilig erklärt wird, muss weder begründet noch gerechtfertigt werden. Es entzieht sich Vernunft und Legalität und ermöglicht höchst bequeme Legitimität mittels gestanzter Freund-Feind-Schablonen.
In der neuen Ära grotesker Propagandalügen haben wir also zu lernen, dass im Namen des Heiligen massengemordet wird, während der durchrationalisierte Mensch ratlos resigniert, weil sein Weltbild demontiert und sein Selbstbild attackiert wird. Jetzt geschieht realiter, was wir in der virtuellen Todeskultur der Krimis, Horrorfilme und Computerkriegsspiele allzeit simulieren – das permanente Jagen, Schießen, Bluten, Foltern, Töten und Morden zum Zweck massenmedialen Entertainments, also besserer Quoten, also höherer Renditen.
Hat das Projekt Vernunft das Humane am Menschen vergessen? Der Zivilisationseuropäer als Hohepriester der cartesianischen und kantischen Rationalität hat sich ja selbst radikalisiert – zum reinen Homo faber. Sein Selbstverständnis honoriert allein den kognitiven Lebensentwurf: die Messbarkeit, Vermessbarkeit, Mathematik, Effizienz und Ökonomie. Der Homo faber kontrolliert, verwaltet, organisiert und vergisst allzu oft, dass Leben mehr ist als nur ein Datensatz. Die Abschaffung des Schicksals durch Planung und Controling ist das Ziel des Homo faber; die Beschwörung des Schicksals durch Roheit und Heil dagegen das Hochamt der Barbaren.
Vernunft heißt, Glaube zu respektieren, aber mit Wissen zu versöhnen
Was kann der gekränkte Rationalist tun, jenseits von Waffenlieferung und Bombardement? Den Traum von der Weltvernunft keinesfalls aufgeben! Vernunft heißt, sich nicht auf den archaischen Kreislauf von Rache und Vergeltung einzulassen. Vernunft heißt, Glaube zu respektieren, aber mit Wissen zu versöhnen. Vernunft heißt, stets auf Sprache und Gespräch zu setzen. Vernunft heißt, dem Recht als gültigem Gesetz höchste Priorität einzuräumen und dem Internationalen Weltstrafgerichtshof auch weltweit Geltung zu verschaffen. Und Vernunft heißt, Garantie von Autonomie und Würde jedes einzelnen Menschen, unverdrossen, unentwegt, allerorten, zu jeder Zeit.
Diese mühsame Arbeit am Projekt Vernunft ist für die Aufgeklärten notwendige Selbstvergewisserung, für die Unterdrückten Vorbild und Hoffnung, für die Unterdrücker Bedrohung und Gegenmacht. Dafür lohnt sich jede Verhandlung, auch wenn sie immense Geduld erfordert. Bekanntlich hat sich Europa selbst eine Menge Zeit gelassen, um von der Barbarei in die Zivilisation aufzusteigen. Für den Europäer hieße Rationalität in Zeiten des Barbarischen also auch: Demut, aber mit erhobenem Haupte.
Christian Schüle, 43, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta), den Essay "Vom Ich zum Wir" (Piper) und zuletzt den Essay "Wie wir sterben lernen" (Pattloch Verlag).
Philosoph und Publizist Christian Schüle
Christian Schüle, Philosoph und Publizist © privat
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