Krisenalarm im Sommer

Die erschöpfte Demokratie

04:35 Minuten
Ein Mann kämpft darum, ein kippendes männliches Profil zu halten.
Auf den zweiten Pandemie-Sommer folgt nun für viele der Hochwasser-Sommer und die Erschöpfung. © Imago / xGaryxWatersx 11592139
Ein Kommentar von Ulrike Guérot · 23.07.2021
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Die frühere Nachrichtenruhe der Sommer ist dahin, beklagt die Politologin Ulrike Guérot. Heute jage ein politischer Superlativ den nächsten und die Demokratie scheint damit überfordert. Die Bürger*innen kämen nicht mehr zur Ruhe.
Früher, im Sommer, weit zurück in den 1980er Jahren, als ich in den Sommerferien Praktika bei Zeitungen gemacht habe, sprach man immer von der "Saure-Gurken-Zeit." Es war nichts los, was einer Berichterstattung würdig war. Die Bewohner der Bundesrepublik tummelten sich am Strand, Kinder tranken Fanta auf Ferienfreizeiten, der Sommer dehnte sich bis hin zur Langeweile. Irgendwann fing die Schule wieder an und dann gab es auch wieder halbwegs interessante Nachrichten.

Gemächlicher Trott

Über Jahrzehnte waren große Krisen – oder das, was man davon mitbekam – Einzelereignisse, etwas Herausragendes: 1983 die große Debatte um die Pershings, Tschernobyl 1986, dann die Wiedervereinigung: drei Großereignisse nationaler Tragweite in zehn Jahren. Dazwischen schien die Republik befriedet und aus heutiger Sicht in einem seltsam gemächlichen Trott. Genau das scheint es nicht mehr zu geben: eine "Saure Gurken-Zeit", eine Zeit, in der Redakteure krampfhaft nach einem Thema suchen, um das Blatt zu füllen.
Heute jagt ein politischer Superlativ den nächsten und die Demokratie verliert ihre Gemächlichkeit. Die Bürger*innen, die all diese politischen GAUs diskutieren, aushandeln und verarbeiten müssen, kommen nicht mehr zur Ruhe: 2021 ist bereits der zweite Pandemie-Sommer, der jetzt zusätzlich zum Hochwasser-Sommer geworden ist.

Politischer Ausnahmezustand

Davor waren es zwei Sommer der Trockenheit, davor der Sommer jener Geflüchtetentracks entlang der Balkanroute und der überfüllten Turnhallen, davor mehre Sommer, in denen man in den Jahren der Bankenkrise um den Erhalt des Euros bangen musste.
Finanzkrise, Flüchlingskrise, Klimakrise, Brexit, Populismus, Krise der Rechtsstaatlichkeit, Fliehkräfte in der EU, Pandemie: das alles und noch viel mehr in einem Jahrzehnt schafft ein politisches System, das nicht mehr zur Ruhe kommt, das keine Behäbigkeit mehr kennt, keine Normalität. Wie lange hält eine Demokratie den permanenten politischen Ausnahmezustand aus?
Vor gut zwanzig Jahren schon schrieb der französische Soziologe Alain Ehrenberg sein Buch "Das erschöpfte Selbst", in dem er den Zustand einer Gesellschaft beschrieb, die von der Postmoderne, ihrem Konsumzwang und ihrem Stress dauererschöpft und krank ist.
Inzwischen ist wohl die Demokratie selbst erschöpft, in der es vor lauter Krisenalarm keine politische Normalität mehr gibt, aber auch keine Kraft für große politische Entwürfe, für eine gesellschaftliche Utopie. Wie denn auch, wo Corona den öffentlichen Raum gleichsam auf Null gefahren hat, das heimische Sofa zum Ersatz der Agora wurde und man sich von dem Anderen, dem man in der Polis notwendigerweise Interesse entgegenbringt, distanzieren sollte?
Längst finden Ent-Solidarisierungsdiskurse - um nicht zu sagen: Entrechtungs- oder Verbannungsdiskurse - gegenüber Ungeimpften statt. Der Druck auf das Individuum wird erhöht, mündige Bürger*innen werden durch impliziten Impfzwang gegängelt.
Die demokratische Position, nämlich dass sich jeder impfen lässt, der will und die anderen eben nicht, und zwar ohne Nachteile, gilt heute als radikal oder unsolidarisch. Dabei ist es eigentlich das Alleinstellungsmerkmal von Demokratien, dem Individuum weder Moral noch Verhaltenskodex überzustülpen zu wollen, geschweige denn, Rechte an Verhalten zu binden.

Müdigkeit statt Wehrhaftigkeit

Doch kaum jemand wehrt sich lautstark gegen diese subtilen Verschiebungen der demokratischen Grundfesten. Die Judikative tritt nicht mehr sichtbar als Korrektiv der Legislative in Erscheinung. Achselzucken, Bequemlichkeit und Müdigkeit statt Wehrhaftigkeit machen sich breit.
Die Freiheitsgrade werden merkbar heruntergefahren, Bürger*innen werden gespalten, der Konformitätsdruck nimmt zu. Die Demokratie erscheint kraftlos gegenüber der Wucht der verschiedenen Krisen, denen mit demokratischen Mitteln offenbar nicht mehr beizukommen ist. Die erschöpfe Demokratie also dürfte uns als Topos in den nächsten Jahren begleiten.

Ulrike Guérot ist Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der österreichischen Donau-Universität Krems und Gründerin des European Democracy Labs in Berlin. Zuvor arbeitete sie in europäischen Think Tanks und Universitäten in Paris, Brüssel, London, Washington und Berlin. Im Herbst 2019 wurde sie mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring sowie dem Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr Buch "Nichts wird so bleiben wie es war?".

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