Krisen-Roulette

Von Michael Frantzen |
Obdachlose gehören zum Alltagsbild vieler amerikanischer Städte. Oft sind es Menschen mit psychischen Problemen, Veteranen aus dem Vietnamkrieg oder aus Afghanistan. Doch immer häufiger sind auch durchschnittliche Amerikaner von Obdachlosigkeit betroffen, als Opfer der aktuellen Wirtschaftskrise.
Um zwölf Prozent ist die Zahl der Obdachlosen letztes Jahr in den USA gestiegen. Besonders hoch ist der Anstieg im Bundesstaat Nevada. Die meisten Obdachlosen dort, bis zu 20.000 Menschen, leben in der Glücksspielmetropole Las Vegas.
Es ist dunkel und kalt. Wie jeden Morgen. Monica Holmes setzt General die Mütze auf. So heißt ihr achtjähriger Sohn. Es ist kurz nach halb vier morgens – in "fabulous Las Vegas" – im "fabelhaften Las Vegas", wie es immer heißt. Beide marschieren los – vorbei an Obdachlosen, die auf dem Bürgersteig kampieren und der Leuchtreklame mit der Aufschrift "JesuSaves". Retten tut Jesus nur noch im Dunkeln: Die Reklame leuchtet schon lange nicht mehr.

"Der Strom ist zu teuer." Monica zuckt die Schultern. Die 40jährige Frau mit dem immer noch mädchenhaften Gesicht hat es eilig. Spätestens in einer halben Stunde muss General in der Kindertagesstätte sein, sie selbst muss Punkt 4.18 Uhr den Bus bekommen – ansonsten kommt sie zu spät zur Arbeit. Fast zwei Stunden dauert die Fahrt, einmal quer durch Las Vegas.

Wenn man so will, ist Monica eine Vorzeige-Amerikanerin: Sie ist eigenverantwortlich; fleißig und arbeitet lieber für wenig Geld, als sich auf Staatskosten einen lauen Lenz zu machen. Monica macht alles richtig. Es gibt nur einen Haken: Monica ist obdachlos. Vorübergehend hat sie Unterschlupf gefunden in der "Las Vegas Rescue Mission" – dem Obachlosenasyl einer christlichen Hilfsorganisation.

Monica: "Ich bin hier seit einem Monat, weil ich nicht mehr genug Geld hatte für die Wohnungsmiete. Ich bin alleinerziehende Mutter. Es ging einfach nicht mehr. Ich muss allein 500 Dollar an Miete zahlen – plus 200 für Strom und Gas. Dann noch mindestens hundert Dollar für den öffentlichen Nahverkehr. Zu allem Überfluss muss ich auch noch mein Bafög zurückzahlen. Mein Gehalt reicht vorne und hinten nicht. Ich arbeite als Kassiererin in einer Tankstelle, ich bekomme nur noch 8,50 Dollar die Stunde - wegen der Krise. Das ist zu wenig, um über die Runden zu kommen."

Bis Ende des Jahres kann Monica erst einmal im Obdachlosenasyl der "Rescue Mission" bleiben. Ihr Zimmer ist sechs Quadratmeter groß: Ein Doppelbett; ein Schrank, ein winziger Tisch – viel mehr ist nicht. Alles picobello sauber. Über dem Bett hängt ein Foto von Alburqueque – Monicas alter Heimatstadt in New Mexico.

15.000 Menschen haben in Las Vegas laut offiziellen Angaben kein Dach über dem Kopf, Ken Heater, der Leiter der "Rescue Mission", geht sogar von bis zu 20.000 aus – darunter immer mehr Mittelklasseleute.

Heater: "Wir in Las Vegas dürften gerade die Hauptstadt des Offenbarungseides sein. In keiner anderen Stadt der Welt können so viele Hausbesitzer nicht mehr ihre Raten zahlen. Solange die Situation auf dem Immobilienmarkt so miserabel bleibt, wird sich auch die Zahl der Obdachlosen nicht verringern. Im Gegenteil: Ich habe gerade mit jemanden vom Innenministerium geredet, der meinte, bis Ende des Jahres könnten noch einmal 100.000 Leute im Großraum Las Vegas die 90-Tagesfrist bekommen. Das heißt, entweder sie zahlen oder sie müssen ausziehen. Das bedeutet natürlich, dass noch mehr Menschen Gefahr laufen, auf der Straße zu landen."

Dass so viele Menschen in der Wüstenstadt kein Dach über dem Kopf haben, hat auch mit dem "Mythos" Las Vegas zu tun. Las Vegas – das ist die Weltstadt des Glücksspiels und Glamours, wo Stars wie Cher und Bette Midler Hof halten. Las Vegas – das sind hunderte Hotels und Casinos, eines extravaganter und überdimensionierter als das andere. Letztes Jahr verzockten 40 Millionen Touristen gut elf Milliarden Dollar beim Glücksspiel. Fabulous Las Vegas.

Viele Glücksritter zieht das magisch an - nicht nur die, die meinen, ihrem Leben durchs Blackjack oder Poker eine neue Richtung geben zu können. Las Vegas – das war bis vor kurzem die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Dachte sich auch Lisa Harbour. Die 45-jährige Afro-Amerikanerin wollte einen "clean cut", wie sie das nennt – einen "klaren Schnitt." Raus aus ihrer Ehe, weg von der dominanten Mutter; ein neuer Job. Ihren alten hatte sie Anfang des Jahres verloren.

Lisa: "Ich dachte, ich könnte in Las Vegas genau wie in Philadelphia als Bankkauffrau arbeiten. Ich hatte auch schon eine Jobzusage. Doch als ich hier ankam, im April, fiel ich aus allen Wolken: Die Bank hatte meinen Job einfach jemand anderem gegeben. Und ich dachte nur: Wie bitte?!"

Da stand sie nun – mutterseelenallein, in Las Vegas. Und konnte nichts anderes tun, als sich einreihen in das Heer der Arbeitslosen. 13 Prozent beträgt die Quote, vor drei Jahren suchten die Arbeitgeber noch händeringend nach Arbeitnehmern. Doch die Zeiten sind vorbei.

Für Lisa Harbour war das fatal. Arbeitslosengeld bekam sie nur ein paar Monate. Ersparnisse: Hatte sie so gut wie keine.

Lisa: "Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ... Wissen Sie: Man sieht es. Aber selbst von Obdachlosigkeit betroffen zu sein, ist etwas ganz anderes. Kein eigenes Heim mehr zu haben. Ich bin aus meiner Wohnung geflogen, weil ich die Miete nicht mehr zahlen konnte. 846 Dollar im Monat. Es ging ganz schnell: Irgendwann fand ich im Briefkasten einen Mahnung von meinem Vermieter. Wir nennen das in den USA "pay or quit". Entweder du zahlst oder du fliegst raus. Du hast fünf Tage Zeit. Es ist hart; wirklich hart. Aber: Du musst versuchen, so gut es geht, dich nicht hängen lassen."

Drei, vier Tage schlief Lisa Harbour unter irgendwelchen Brücken – bis ihr eine Freundin den Tipp gab, beim "Shade Tree" nach Hilfe zu suchen. Die Hilfsorganisation betreibt im Norden der Stadt, wo man fast schon das Gefühl hat, halb in der Wüste zu sein, ein Obdachlosenasyl speziell für Frauen und ihre Kinder.

Alles sehr modern und aufgeräumt, die braunen Häuser im kolonialen Hacienda-Stil sind erst vor zwei Jahren errichtet worden. Betont Leiterin Marlene Richter.

Richter: "So schlimm wie jetzt war es noch nie. Wir haben zurzeit sehr viel mehr Obdachlose, die zum ersten Mal in ihrem Leben von Obdachlosigkeit betroffen sind: Bei uns sind das rund 250 der 350 Frauen und Kinder. Wir mussten uns erst einmal umstellen. Du kannst die Neulinge nicht genauso behandeln, wie Leute, die schon öfters auf der Straße waren. Viele mussten ja noch nie mit Wildfremden einen Schlafplatz teilen. Oder die Dusche. Wir versuchen ihnen zu helfen, damit umzugehen. Wir bieten ihnen Bewerbungskurse an, um sie ihrem Ziel einen Schritt näher zu bringen, wieder Arbeit zu finden. Doch das ist schwierig. So wie der Arbeitsmarkt zurzeit ist, brauchen die Frauen durchschnittlich drei bis sechs Monate, bevor sie einen Job finden. Das ist eine ganz schön lange Zeit."

Einen Job sucht auch Aaron Kiks Mutter. Sagt sie zumindest. Aaron verzieht das Gesicht. Der muskulöse 17-Jährige mit dem kurzen Haar ist nicht besonders gut zu sprechen auf die "old lady", wie er seine Mutter nennt. Alles sei halbwegs OK gewesen, meint der ernste Teenager, bis sie vor zweieinhalb Jahren erst ihren Job verlor – und dann den Überblick über ihr Leben. Zu viele Partner; zu viele Schulden; zu viele Rezepte für Schmerzmittel.

Aaron: "Sie hat manchmal 400 oder 500 Dollar für diese Muskelentspanner ausgegeben, anstatt davon Rechnungen zu zahlen oder uns etwas zu Essen zu kaufen. Es ist auch vorgekommen, dass wir die Miete nicht mehr zahlen konnten und wir aus unserer Wohnung raus mussten. Meistens musste ich dann Freunde fragen, ob ich vorübergehend bei ihnen bleiben könnte. Und ob SIE mit kann. Meine Mutter hat sich dann an der Miete beteiligt. Ziemlich viel Verantwortung für einen Jugendlichen. Irgendwann habe mir nur gedacht: Ich will das nicht mehr. Mein Leben kann nur besser werden, wenn ich mir etwas anderes suche."

Aaron war 15, als er von zu Hause weg ging. Die Zeit anfangs war hart. Monatelang hielt er sich per "couch surving" über Wasser: Hier mal eine Nacht bei einem Freund auf dem Sofa, dort mal eine Woche. Ein paar Nächte schlief er in einem verlassenen Haus. Kein Einzelfall: Laut Schätzungen verbringen Nacht für Nacht mindestens 300 Jugendliche in Las Vegas die Nacht im Freien.

Aaron hat inzwischen den Absprung geschafft: Seit Juli letzten Jahres lebt er in einem Wohnprojekt der "Nevada Partnership for homeless youth" – einer Hilfsorganisation für obdachlose Jugendliche. Über seine Zeit "draußen", auf der Straße, redet Aaron nicht so gerne. "Scary" sei das gewesen – ganz schön gruselig. Und immer die Angst im Nacken, die Polizei könnte ihn aufgreifen.

In kaum einer anderen Stadt der USA - klagen Menschenrechtsgruppen - geht die Polizei so rigoros gegen Obdachlose vor wie in Las Vegas – besonders am Strip und der Fremont Street, den touristischen Epicentern der Glücksstadt. Jeder, der nur entferntest danach aussieht, eventuell ein "bum" zu sein, ein Obdachloser, wird sofort angehalten – und nach Aufnahme der Personalien des Platzes verwiesen. Soll ja keine Kratzer bekommen – die Glitzerwelt.

Nicht nur in Las Vegas ist das gesellschaftliche Klima gegenüber Obdachlosen rauher geworden: Überall in den Vereinigten Staaten melden die Behörden mehr Übergriffe auf Obdachlose. Dieses Jahr sind es allein schon mehr als 900 – so viel wie noch nie.

Monica: "Es nervt mich, wenn die Leute Obdachlose über einen Kamm scheren. Ich kann im Bus sein und niemand würde auf den Gedanken kommen, dass ich obdachlos bin. Aber wenn sie jemanden sehen, der nicht so gut gekleidet ist und nicht so sauber, ziehen sie über ihn her. Nach dem Motto: Guck mal, der Penner da. Soll mal gefälligst arbeiten gehen! Und ich stehe neben ihnen! Es könnte viel mehr für Obdachlose getan werden.

Die Gemeinschaft müsste mehr tun; unser Bürgermeister; die Ratsmitglieder. Oder Familien, die etwas Geld übrig haben. Kleinigkeiten könnten uns schon weiterhelfen. Was weiß ich: Ein Tagesticket für den Bus. Das kann eine ganze Menge bedeuten. Du kommst so leichter zu den Hilfseinrichtungen. Oder zu Vorstellungsgesprächen für einen Job."

Zum Vorstellungsgespräch war auch die Bankkauffrau Lisa Harbour letztens. Ein Job in einer Bank, 15 Dollar die Stunde. Bekommen hat sie ihn nicht. Mal wieder.

Lisa: "Ich schaue ständig im Internet nach Jobangeboten. Ich weiß gar nicht, wie viele Bewerbungen ich schon ausgefüllt habe. Es dürften bestimmt über hundert sein. Meistens bekommst du noch nicht einmal eine Absage. Und wenn, dann ist es immer das Gleiche: Entweder du bist überqualifiziert. Oder deine Expertise entspricht nicht dem "Anforderungsprofil". Es ist ganz schön frustrierend. Doch ich weigere mich, aufzugeben. Ich lasse mich nicht unterkriegen."

Warten auf bessere Zeiten – vielen Obdachlosen wie Lisa bleibt nichts anders übrig – auch wenn die Aussichten schlecht sind. Las Vegas, meint die Marketing-Spezialistin und Obdachlosen-Aktivistin Susan Somers, zählt zu einem der "Ground Zeroes" der Wirtschaftskrise.

Somers: "Wir werden wohl noch länger auf den Aufschwung warten müssen als der Rest des Landes. Die Wirtschaft hier ist sehr abhängig vom Tourismus; speziell Las Vegas. Es gibt nicht viel anderes. Neben dem Tourismus eigentlich nur noch die Bauindustrie. Aber da ist zurzeit auch nicht viel zu holen. Nebenan in Kalifornien haben sie zumindest Biotechnologie. Oder den ganzen Gesundheitsbereich, die sind breiter aufgestellt. Wir haben nur Glücksspiel und Tourismus. Doch die Stadtväter versuchen jetzt gegenzusteuern - und beispielsweise Messen und Tagungen nach Las Vegas zu holen. Sie wollen so Unternehmen anlocken."

Marlene Richter – die Leiterin des "Shade Tree" - kann das nur recht sein. Neue Unternehmen – das könnte auch bedeuten: Neue Spender für ihre Hilfsorganisation. Zwei Drittel des Budgets kommen von Privatspendern, der Rest von Kommune und Bund.

Richter: "Die Wirtschafsmisere hat in Las Vegas auch viele unserer Spender voll erwischt. Das Spendenaufkommen ist drastisch gesunken. Das gilt nicht nur für Privatspender, sondern auch für Spender aus dem Wirtschaftsbereich. Die Spielcasinos zum Beispiel: Etliche sind in dieser wirtschaftlichen Tragödie entweder bankrott gegangen. Oder haben umstrukturiert und ihre Kosten reduziert. Für Spenden bleibt da kein Geld mehr. Letztes Jahr haben wir 800.000 Dollar weniger eingenommen. Das sind rund 30 Prozent unseres Gesamtbudgets. Wir können eigentlich nur noch überleben, weil wir in den besseren Zeiten Geld für den Notfall zurückgelegt haben. Wir leben von unseren Ersparnissen."

Es ist heiß und sonnig – an diesem Novembertag. Eine Stunde noch – dann wird die Sonne untergehen – in "fabulous Las Vegas". Es ist kurz nach vier Uhr. In ein paar Minuten wird Monica Holmes ihren Sohn General aus der Kindertagesstätte abholen, tagsüber war er in der Grundschule.

Ein langer Arbeitstag liegt hinter ihr. Acht Stunden in der Tankstelle am anderen Ende der Stadt. Plus vier Stunden Busfahrt. Monica reibt sich die Augen. Aber Hauptsache, ihr Sohn kommt klar mit der Situation; dass sie kein eigenes Heim haben. Manchmal, sagt sie, würden sie abends zusammen sitzen und über ihren Traum reden.

Monica: "Ein eigenes Apartment. Ein Apartment. Ein schönes Apartment. Vielleicht eine Gehaltserhöhung bei meinem Job, um die Rechnungen zu bezahlen - und etwas zur Seite legen zu können. Ich will nicht reich werden, ein bisschen tut es auch. Mir macht es nichts aus, hier im Asyl zu leben. Aber: Einfach mal so lange im Bett bleiben zu können, wie ich möchte. Einfach entspannen und Fernsehen. Zeit für meinen Sohn haben. Das vermisse ich schon. Hier ist ja alles reglementiert. Es gibt feste Zeiten, wann wir unser Zimmer verlassen - und wann wir wieder dasein müssen. Wenn ich nicht arbeite oder am Wochenende dürfen wir tagsüber nicht hier bleiben. Normalerweise gehen wir dann in den Park. Oder fahren Bus."

Morgen hat sich Monica extra frei genommen. General wird neun. Zur Feier des Tages will sie mit ihm in eine Pizzeria gehen. Und ein, zwei Spielzeuge schenken. Vielleicht werden sie auch wieder ein bißchen träumen: Vom gemeinsamen Apartment. Dem eigenen.