Kriminologe zu rechten Chatgruppen

Die Polizei braucht antifaschistischen Grundkonsens

07:42 Minuten
Silhouette einer Gruppe von Polizisten, die sich an ein Geländer lehnen.
Die rechtsextremen Chats machten nur noch einmal deutlich, was schon lange bekannt sei, meint Tobias Singelnstein. © imago images / Sven Simon
Tobias Singelnstein im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.09.2020
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In Nordrhein-Westfalen sind rechtsextreme Chatgruppen bei der Polizei aufgeflogen. Der Kriminologe Tobias Singelnstein sieht ein Problem im Korpsgeist der Truppe. Er fordert einen antifaschistischen und antirassistischen Konsens. Zudem beklagt er Forschungsdefizite.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) spricht von einer "Schande für die Polizei". 29 Beamte – die meisten davon bei der Polizei Essen – sollen rechtsextreme Inhalte über ihre Mobiltelefone ausgetauscht haben: darunter auch Fotos von Adolf Hitler und die fiktive Darstellung eines Flüchtlings in einer Gaskammer.
"Hier wird besser sichtbar, was wir eigentlich schon lange wissen", sagt der Kriminologe Tobias Singelnstein: "Dass die Polizei – nicht nur, aber auch in Deutschland – ein Problem mit Rechtsextremismus in den eigenen Reihen hat."

Ruf nach einer besseren Datenlage

Gleichzeitig beklagt Singelnstein ein Forschungsdefizit in diesem Bereich. Die meisten existierenden Untersuchungen stammten noch aus den 1990er-Jahren. Nach den vorliegenden Studien hätten 5 bis 20 Prozent der Beamten rassistische und rechtsextreme Einstellungen gezeigt, berichtet der Kriminologe.
Dass Bundesinnenminister Horst Seehofer einer neuen Untersuchung kürzlich eine Absage erteilte, findet Singelnstein "aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt nicht nachvollziehbar":
"Aber Politik und Polizei tun sich immer schwer mit solchen Fragestellungen, die aus einer sehr kritischen Perspektive an die Organisation Polizei herangehen. Da gibt es Druck vonseiten der Gewerkschaften. Und deshalb wird so etwas leider viel zu selten gemacht."
Leuchtschild der Polizeiwache in der Dämmerung. Im Hintergrund sind Straßenlaternen und graue Wolken zu sehen.
Ist zu viel Korpsgeist das Problem? Das fragt sich auch der Krimonologe Singelnstein.© picture alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt
Es sei gut und richtig, dass das Problem nun auf den Tisch komme, so Singelnstein. Er wünsche sich aber, dass weniger mit sicherheitsbehördlichen Instrumenten gearbeitet werde – so wie es Reul nun vorhabe. Man müsse sich klar machen, dass es hier um ein strukturelles Problem gehe:
"Man muss wissenschaftlich rangehen und sich ansehen: Wie entsteht das in der Polizei? Wie verfestigt es sich? Wie kommt es in die polizeiliche Praxis rein?" Nur wenn man darüber mehr wisse, könne man auch die Mittel bestimmen, die sinnvoll seien, um dagegen vorzugehen.

"Polizeikultur ist ein zentrales Thema"

Ein Problem scheint allerdings schon länger offensichtlich: der Korpsgeist in der Polizei. "Polizeikultur ist ein zentrales Thema", sagt Singelnstein – und fordert einen "antifaschistischen und antirassistischen Grundkonsens" in der Truppe:
"Die große Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten würde sich immer verbal gegen solche rechtsextremen Einstellungen wehren, wenn man sie fragt. Aber ob sie konkret tätig werden, wenn sie so etwas in ihrem dienstlichen Umfeld beobachten, das ist eben noch mal eine andere Frage. Weil es in der Organisation eine sehr starke Binnenkultur und einen sehr starken Zusammenhalt gibt und es verpönt ist, solche Probleme nach außen zu tragen."
Die Polizisten in den Chatgruppen hätten sich offenbar sehr sicher gefühlt, sagt Singelnstein. Die 29 Beamten wurden inzwischen suspendiert, Disziplinarmaßnahmen gegen sie eingeleitet. Ungefähr die Hälfte von ihnen soll ganz aus dem Dienst entfernt werden. 25 arbeiteten bisher im Polizeipräsidium Essen.
(ahe)
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