Kriminalpolitik hängt am Zeitgeist
Was ist Ihr Eindruck? Wird Deutschland immer unsicherer? Ganz konkret: Hat die schwere Kriminalität zugenommen? Sind Straftaten wie Mord und Totschlag, Vergewaltigung und sexueller Missbrauch heute häufiger als noch vor zehn Jahren? Und wie reagiert die Kriminalpolitik auf diese Entwicklung? Mit ausreichender Schärfe oder einem eher unangebrachten Verständnis für die Täter?
Ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik, welche die Zahl der bundesweit bekannt gewordenen Straftaten nachweist, dürfte so manchen überraschen: Danach hat die Häufigkeit der Tötungsdelikte in den vergangenen zehn Jahren um knapp 20 Prozent abgenommen. Ein Rückgang ist auch bei der Vergewaltigung festzustellen. Gleiches gilt für den sexuellen Missbrauch von Kindern.
Dennoch zeigen Befragungen ein anderes Bild der Wahrnehmung von Kriminalität. In der Regel schätzt die Bevölkerung, dass alles immer schlimmer werde, dass gerade in der letzten Zeit schwere Straftaten eher zugenommen hätten. Reale und gefühlte Kriminalität fallen also deutlich auseinander.
Die erfreuliche Abnahme der schweren Gewaltkriminalität könnte für unsere Politiker eigentlich ein Grund dafür sein, auf undurchdachte Verschärfungen des Strafrechts zu verzichten. Doch auch hier ist die Wirklichkeit eine andere: Leider reagiert die Kriminalpolitik zu sehr auf bisweilen hoch emotionalisierte einzelne Vorfälle, ohne ausreichend die Folgen für die Kriminalitätsbekämpfung insgesamt zu bedenken. Dabei ist es für Politiker zugegebenermaßen nicht einfach, bei der reißerischen Berichterstattung vieler, beileibe nicht nur der Boulevardmedien, kühlen Kopf zu bewahren.
Ein Beispiel: Die Möglichkeit, einen Straftäter über die Verbüßung seiner Strafe hinaus in sogenannte Sicherungsverwahrung zu nehmen, ist seit Ende der Neunzigerjahre fast jedes Jahr erweitert worden. Während noch vor kurzem Sicherungsverwahrung nur als letztes Mittel nach einer langen kriminellen Karriere angeordnet werden konnte, ist die Sicherungsverwahrung heute schon vom Jugendstrafrecht und damit für zur Tatzeit noch Minderjährige vorgesehen.
Diese mehrfache Ausweitung hat zu einem beispiellosen Anstieg der Zahl der Sicherungsverwahrten geführt. Befanden sich vor zehn Jahren nur rund 200 Personen in Sicherungsverwahrung, sitzen heute mehr als 500 Menschen in dieser schärfsten Sanktion des Strafrechts ein. Und was das Erstaunlichste ist: Trotz aller Verschärfungen bleibt in der Öffentlichkeit das Gefühl, die Verantwortlichen unternähmen zu wenig, um die Bevölkerung ausreichend vor schweren Straftaten zu schützen.
Kriminalpolitik hängt also ein Stück weit am Zeitgeist. Diese Abhängigkeit ist fehleranfällig. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kurz vor Weihnachten die Bundesrepublik dazu verurteilt, einem Sicherungsverwahrten 50.000 Euro zu zahlen, als Entschädigung dafür, dass seine jahrzehntelange Verwahrung die Menschenrechte verletzte.
Auch wenn Deutschland sich gegen dieses Urteil noch wehrt, der Rüffel aus Straßburg sollte uns schon jetzt lehren, Kriminalpolitik nicht zu kurzatmig und stimmungsabhängig, sondern wieder stärker auf der Grundlage von Fakten zu betreiben. Dann werden wir überdies erkennen, dass das Strafrecht nur einen kleinen Beitrag für die Sicherheit der Gesellschaft zu leisten vermag.
Jörg Kinzig, geboren 1962 in Mannheim, Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Heidelberg, Lausanne und Freiburg. Seit 2006 Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Tübingen, mit dem Forschungsschwerpunkt "Gefährliche Straftäter".
Dennoch zeigen Befragungen ein anderes Bild der Wahrnehmung von Kriminalität. In der Regel schätzt die Bevölkerung, dass alles immer schlimmer werde, dass gerade in der letzten Zeit schwere Straftaten eher zugenommen hätten. Reale und gefühlte Kriminalität fallen also deutlich auseinander.
Die erfreuliche Abnahme der schweren Gewaltkriminalität könnte für unsere Politiker eigentlich ein Grund dafür sein, auf undurchdachte Verschärfungen des Strafrechts zu verzichten. Doch auch hier ist die Wirklichkeit eine andere: Leider reagiert die Kriminalpolitik zu sehr auf bisweilen hoch emotionalisierte einzelne Vorfälle, ohne ausreichend die Folgen für die Kriminalitätsbekämpfung insgesamt zu bedenken. Dabei ist es für Politiker zugegebenermaßen nicht einfach, bei der reißerischen Berichterstattung vieler, beileibe nicht nur der Boulevardmedien, kühlen Kopf zu bewahren.
Ein Beispiel: Die Möglichkeit, einen Straftäter über die Verbüßung seiner Strafe hinaus in sogenannte Sicherungsverwahrung zu nehmen, ist seit Ende der Neunzigerjahre fast jedes Jahr erweitert worden. Während noch vor kurzem Sicherungsverwahrung nur als letztes Mittel nach einer langen kriminellen Karriere angeordnet werden konnte, ist die Sicherungsverwahrung heute schon vom Jugendstrafrecht und damit für zur Tatzeit noch Minderjährige vorgesehen.
Diese mehrfache Ausweitung hat zu einem beispiellosen Anstieg der Zahl der Sicherungsverwahrten geführt. Befanden sich vor zehn Jahren nur rund 200 Personen in Sicherungsverwahrung, sitzen heute mehr als 500 Menschen in dieser schärfsten Sanktion des Strafrechts ein. Und was das Erstaunlichste ist: Trotz aller Verschärfungen bleibt in der Öffentlichkeit das Gefühl, die Verantwortlichen unternähmen zu wenig, um die Bevölkerung ausreichend vor schweren Straftaten zu schützen.
Kriminalpolitik hängt also ein Stück weit am Zeitgeist. Diese Abhängigkeit ist fehleranfällig. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kurz vor Weihnachten die Bundesrepublik dazu verurteilt, einem Sicherungsverwahrten 50.000 Euro zu zahlen, als Entschädigung dafür, dass seine jahrzehntelange Verwahrung die Menschenrechte verletzte.
Auch wenn Deutschland sich gegen dieses Urteil noch wehrt, der Rüffel aus Straßburg sollte uns schon jetzt lehren, Kriminalpolitik nicht zu kurzatmig und stimmungsabhängig, sondern wieder stärker auf der Grundlage von Fakten zu betreiben. Dann werden wir überdies erkennen, dass das Strafrecht nur einen kleinen Beitrag für die Sicherheit der Gesellschaft zu leisten vermag.
Jörg Kinzig, geboren 1962 in Mannheim, Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Heidelberg, Lausanne und Freiburg. Seit 2006 Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Tübingen, mit dem Forschungsschwerpunkt "Gefährliche Straftäter".