Russlands Krieg gegen Ukraine

Deutliche Hinweise auf Kriegsverbrechen, aber kein Völkermord

09:39 Minuten
Durch ein Loch in der Wand ist die zerstörte Turnhalle einer Schule zu sehen.
Angriffe auf zivile Einrichtungen: Das Bild zeigt nach ukrainischen Angaben eine von russischen Bomben zerstörte Schule im Dorf Sartana in Donetsk. © imago / SNA / Alexey Kudenko
Kristin Platt im Gespräch mit Vladimir Balzer · 10.03.2022
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Die Ukraine wirft Russland einen Genozid vor. Wladimir Putin benutzte wiederum denselben Begriff, um seinen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Die Genozidforscherin Kristin Platt sieht klare Indizien für russische Kriegsverbrechen, aber keine für einen Völkermord.
Die Bilder, die den Krieg in der Ukraine zeigen, sind erschreckend. Seit Tagen werden vorsätzliche russische Angriffe auf Wohnviertel und zivile Einrichtungen gemeldet. In der Stadt Mariupol sollen Bomber gezielt ein Krankenhaus mit einer Wöchnerinnenstation beschossen haben. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj wirft Russland einen "Genozid" an der ukrainischen Bevölkerung vor.

Genozid als politischer Kampfbegriff

Die Berichte, die uns aus der Ukraine erreichen, lieferten deutliche Hinweise auf russische Kriegsverbrechen, sagt die Sozialpsychologin und Genozidforscherin Kristin Platt von der Ruhr-Universität-Bochum. Mit dem Begriff des Genozids oder Völkermords müsse man jedoch sehr vorsichtig umgehen, denn gerade im Krieg werde er häufig strategisch und auch propagandistisch eingesetzt.
Im Vorfeld des Krieges hatte Russlands Präsident Putin seinerseits mehrfach den Vorwurf erhoben, die Ukraine verübe einen "Genozid" an Teilen der Bevölkerung in den Separatistengebieten Luhansk und Donezk. Diese Behauptung, mit der Putin seinen Angriff auf die Ukraine rechtfertigte, nennt Platt "komplett absurd". Es handele sich um ein bewusst inszeniertes Bedrohungsszenario, um die Bevölkerung in Russland für den Krieg zu mobilisieren.

Gezielte Vernichtung einer Gruppe

Die gezielten Angriffe auf zivile Einrichtungen, über die nun aus der Ukraine berichtet wird, die Zerstörung von Wohngebäuden mit Absicht und die Plünderung von Städten, seien per Definition Kriegsverbrechen, erklärt Platt. Sie ist davon überzeugt, dass sich die dafür entscheidende "Vorsätzlichkeit" der russischen Angreifer beweisen lassen wird.
Auf einen Genozid gebe es hingegen derzeit keine eindeutigen Hinweise. Genozid werde alltagssprachlich oft als Ausdruck für "das schwerste Verbrechen" überhaupt oder "die höchste Gewalt" verstanden, so Platt. Der Begriff bezeichne jedoch eine spezifische Art von Verbrechen, bei dem Gewalt gegen eine Gruppe ausgeübt werde, mit dem Ziel, diese zu ermorden. Auch außerhalb von Kriegszuständen gehöre dazu beispielsweise, dass Menschen Lebensbedingungen unterworfen würden, "die auf die physische Zerstörung der Gruppe abzielen" - durch gezielte Verhinderung von Geburten oder Ernährungsmangel.

Erbe des Holodomor

Die furchtbare Hungersnot, der die ukrainische Bevölkerung in den 1930er-Jahren durch eine gezielte Politik des Stalin-Regimes ausgesetzt gewesen sei - der Holodomor - sei beispielsweise "ein klassischer und unter Wissenschaftlern nicht bestrittener Genozid", so Platt.
Schon länger setze sich die Ukraine für eine internationale Anerkennung des Holodomor als Völkermord ein. Dass diese Anerkennung auf politischer Ebene bis heute versagt geblieben sei, spiele sicherlich auch eine wesentliche Rolle dabei, wenn Selenskyj nun erneut den Vorwurf des Genozids gegenüber Russland erhebe.
(fka)

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