Kriegspanorama und Veteranen-Treff

Von Isabella Kolar |
Die sieben braunen Hühner, die auf der Straße Lenins im kleinen Ort Schukow spazieren gehen, müssen ein ziemlich ruhiges Gemüt haben. Das große rote Feuerwehrauto kriegt gerade noch die Kurve, biegt ab und die Hühner schauen nicht einmal auf. Es ist ein ruhiges Fleckchen Erde, kleine bunte Holzhäuschen mit verzierten Fensterrahmen beherbergen die Menschen hier, etwa 100 Kilometer südwestlich von Moskau.
Seinen Namen verdankt der Ort dem berühmten Sowjetmarschall Georgij Konstantinowitsch Schukow, unter dessen Führung die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges die Reichshauptstadt Berlin stürmte. Der spätere sowjetische Verteidigungsminister ist hier aufgewachsen. Seit 45 Jahren gibt es hier deshalb auch ein Museum seines Namens. Ein mächtiger hoher Bau aus Backstein und Beton, eine Mischung zwischen Festung und Kirche.

Der erbitterte Kampf zwischen den sowjetischen und den deutschen Soldaten in den Straßen Berlins - er klingt hier bis heute nach. Jurij Levitan, dessen Stimme das gesamte russische Volk in den Kriegsjahren in seinen Bann schlug - verkündet die Einnahme Berlins am 2. Mai durch Marschall Schukow und seine Truppen:
"Die Truppen der ersten weißrussischen Front unter dem Oberkommando des Sowjet-Marschalls Schukow haben nach hartnäckigen Straßenkämpfen die Zerschlagung der Berliner Gruppe der deutschen Truppen vollendet und haben heute, am 2. Mai, die Hauptstadt Deutschlands, Berlin, völlig in ihrer Gewalt."

Hitler erklärte Jurij Levitan zu seinem persönlichen Feind und setzte auf seine Gefangennahme ein hohes Kopfgeld aus. Dramatisch die Klänge im Schukow-Museum und dramatisch auch das Bild dazu: das Diorama "Der Sturm des Reichstages", ein dreidimensionales, den Raum komplett ausfüllendes Schaubild, lässt den Betrachter eine Zeitreise antreten: zum 30. April 1945, in Berlin, morgens.

Aus der Spree schießen neben der Moltke-Brücke Fontänen von herabstürzenden Granaten und Bomben. Am Himmel Dutzende sowjetischer Kampfflugzeuge. Am Boden der Kampf Mann gegen Mann. Zwischen umgestürzten Holzkisten, herumliegenden Autotüren gehen Soldaten der Roten Armee in Deckung. Nur wenige Meter entfernt schleudert ein Deutscher eine Granate in ihre Richtung. Im Hintergrund hellrot und flammenerleuchtet die Kuppel des Reichstages.

Zwei große lange Mörsergranaten lehnen nebeneinander an einem Panzer, bzw. an dem, was von ihm übriggeblieben ist. Eine ist echt und eine gemalt. Denn das gemalte Bild mündet in eine breite Fläche, bestehend zum Teil aus echten Pflastersteinen, die tatsächlich aus Berlin stammen. Symbolhaft liegen der Helm eines gefallenen sowjetischen Soldaten und eines deutschen Leidensgenossen zusammen. Sie haben die weite Reise aus Berlin gemeinsam mit dem Bild gemacht. Die Geschichte des Dioramas ist - geschuldet den historischen Umbrüchen des vergangenen Jahrhunderts - ebenfalls eine bewegte. Der Direktor des Schukow-Museums Aleksandr Vassiljewitsch Filimonov:

"Das Diorama wurde in Berlin gebaut. 1976 haben es zwei Künstler eines bekannten Moskauer Ateliers, das sich auf Kriegsdarstellungen spezialisiert hatte, in Wünsdorf hergestellt, dem Hauptquartier der Sowjetarmee in der DDR, und bis 1993 war das Diorama dort. Als unsere Truppen aus Deutschland abzogen, wurde das Diorama dort abgebaut und nach Russland gebracht."

Die Einwohner und die Veteranen von Schukow kämpften zwei Jahre darum, das Diorama, das ja schließlich sein Entstehen den Heldentaten ihres Georgij Konstantinowitsch verdankte, auch in ihr Museum zu bekommen. Denn nur da gehörte es ihrer Meinung nach hin. Nach einigen Irrwegen innerhalb Russlands fand das Werk schließlich im Frühjahr 1995 eine neue Heimat in Schukow. Und die Eltern des Dioramas besuchen es dort regelmäßig:

"Beide Künstler sind sogenannten verdiente Künstler der Sowjetunion: Jewgenij Iwanowitsch Donilewskij und Vinjamin Michailowitsch Sibirskij. Sie haben das Diorama gebaut und sie haben es auch hier in unserem Museum wiedererrichtet. Das Atelier Grekov ist ein Atelier von Künstlern, die den Krieg darstellen. Das heißt ihre Hauptrichtung ist die Abbildung von Schlachten. Das reicht von Motiven des Mittelalters, bis zurück zu den Eroberungen der Mongolen bis hin zu Napoleon. Zurzeit beschäftigen sich die jungen Künstler dieses Ateliers viel mit den Ereignissen in Afghanistan und Tschetschenien. "

Krieg ist eben Krieg - die Motive bleiben sich gleich: Kampf, Elend, Verderben - die Politik hat kapituliert, die Waffen sprechen und der Tod kennt keine Nationalität oder Rasse. Und so weiß der Direktor des Schukow-Museums, die zwei Künstler sind sehr sorgfältig ans Werk gegangen:

"Das ist alles ganz genau. Auch vom historischen Gesichtspunkt ist das absolut genau. Sogar die Spuren der Kugeln und Granaten an den Gebäuden, die auf diesem Bild dargestellt sind, sie entsprechen genau der Geschichte, das wurde alles auf der Grundlage von Chroniken und Fotos hergestellt. Absolute dokumentarische Genauigkeit und natürlich hohe künstlerische Ausdruckskraft. "

Groß in Dimension und Ausdruck, doch was das Leiden betrifft kann das Diorama nur einen ganz kleiner Ausschnitt von dem zeigen, was das russische Volk erduldet hat. 28 Millionen tote Russen - das war der hohe Blutzoll, den dieses Land zahlte. Die Mehrheit der Menschen ist bis heute der Meinung: der 9. Mai - es ist der größte und höchste Feiertag im Land, der Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, der Tag des Gedenkens der Gefallenen und der Tag der Ehre für die Veteranen. Diese werden im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen jeden Tag befragt, fotografiert, und gefeiert.

Und täglich finden auch irgendwo im Land Veteranentreffen zum gemeinsamen singen, beten oder einfach reden statt. So wie am vergangenen Freitag in Schukow. In der Lenin-Bibliothek direkt neben dem Museum sitzen etwa 80 Veteranen, Frauen und Männer, aus Schukow und der Umgebung zusammen. Sie haben sich extra schön gemacht und an den Jacketts der Männer prangen unzählige runde goldene Orden an bunten Bändern. Wie alle Veteranen Russlands haben sie den Orden zum heutigen 60. Jahrestag des Sieges bereits verliehen bekommen. Die Tische drohen unter der Last kulinarischer Köstlichkeiten zusammenzubrechen. Auf der runden Bühne stehen die aufgeregten Erstklässler aus der Schukower Grundschule, weiße Blüschen, blaue Röckchen oder Hosen. Sie geben ihr Bestes:

Und das ist heute das alte sowjetische Kinderlied "lass immer die Sonne scheinen".

Die Sonne scheint wieder - und das Diorama wird auch die Generation, die den Krieg nicht miterlebt hat, an die Leistungen ihrer Vorfahren vor 60 Jahren erinnern, meint Vizeadmiral Schewtschenko. Das Diorama im Schukow-Museum - für ihn eine ganz und gar patriotische Angelegenheit:

"Das Diorama - das ist Heroismus, das ist Patriotismus, das ist die Liebe zur Heimat, das ist eine Qualität, die es in jedem Volk gibt, das seine nationale Ehre, seine Werte und seine Heimat verteidigt."

Das Diorama als Inbegriff von Patriotismus - so sieht es auch die kämpferische 90-jährige Nina Andrejewna, die sich als Chauffeurin freiwillig an die Front meldete. An ihrer Bluse hängen viele runde Medaillen, eine davon mit dem Porträt Stalins, für sie der größte Held. Das Diorama sei wie ein Wallfahrtsort, meint sie:

"In der ersten Zeit, als das Diorama hierher kam, sind wir fast jeden Tag dahin gegangen. Ich und alle meine Freundinnen sind hin, wenn wir gerade nicht gearbeitet haben. Ich wollte unbedingt an die Front, unbedingt. Es war einfach ein großer Patriotismus in mir, alle gehen und warum nicht auch ich? Ich bin überhaupt so eine Kriegerische, ich habe immer die sowjetischen Lieder gesungen und habe an der Front Konzerte organisiert, das ist einfach dieser riesige Patriotismus in mir."

Zurück in die Heimat, die Soldaten - zumindest ein Teil von ihnen - verlassen Berlin nach dem Grauen des Krieges - davon singt der Alexandrov-Chor, das kriegsmusikalische Ensemble der Roten Armee. Einige der Soldaten, die in Berlin kämpften, begaben sich später auf Spurensuche im Schukow-Museum bei Moskau - und waren verblüfft ob der Detailgenauigkeit. Museumsdirektor Filimonov:

"Bei uns waren die Menschen, die sogar ganz genau in dem Moment dort waren, der auf dem Diorama dargestellt ist. Einmal kam ein Veteran, der ganz lange davor stand und als ich ihn fragte, sagte er: Ja, ich war genau in dem Moment da und da, und ich suche mich auf dem Bild. Ein Pilot schaute sich lange den gemalten Himmel mit den Kampfflugzeugen an und suchte seinen Flieger, denn er war an eben diesem Tag auch geflogen. "

Auch Nikolaj Nikolajetisch Nagibin war fasziniert, als er zum ersten Mal vor dem Diorama stand. Auch er war an der Front und fühlte sich beim Anblick der kämpfenden Soldaten in Berlin zurückversetzt in seine eigene Vergangenheit:

"Das sofort in Worte zu fassen ist sehr schwer. Doch man hat den Eindruck, dass alles ganz lebendig ist. Die wirkliche Schlacht vor den Augen. Vor 60 Jahren hat jede russische Familie diese fürchterliche Zeit durchmachen müssen. Und es gibt noch heute keine Familie in Russland, die nicht jemanden verloren hätte. Viele können diesen großen Feiertag gar nicht mit uns erleben. "

Irgendwie heilige Vögel - das sind den Russen schon immer die Kraniche. Der populäre Schauspieler und Sänger Mark Bernes singt von den weißen Kranichen, den Seelen der gefallenen Soldaten, die am Himmel vorüberziehen. Ihrer will Russland heute gedenken - und nicht über Stalin diskutieren.