Kriegsdienst am Schreibtisch

18.01.2010
1915 ließ Thomas Mann den Roman "Der Zauberberg" erst einmal liegen und stieg in den Schützengraben. So empfand er selbst die Arbeit an den "Betrachtungen eines Unpolitischen". Von wohlmeinenden Ärzten ausgemustert, leistete er Kriegsdienst am Schreibtisch.
Der sechshundertseitige Essay, der 1918 erschien und jetzt in mustergültig kommentierter Ausgabe vorliegt, ist ein deutsches Bekenntnisbuch, noch mehr aber die Frucht eines gewaltigen Ressentiments: gegen den engagierten Literaten, Thomas Mann nennt ihn "Zivilisationsliteraten". Es ist ein Popanz mit sehr konkretem Hintergrund. Bruder Heinrich hat Modell gestanden: Der Zivilisationsliterat ist der frankophile Belletrist, der die Schuld für den Ersten Weltkrieg allein bei Deutschland sieht, der Satiriker des "Untertans". Er fordert "Humanität", glaubt an den sozialen Fortschritt und lässt die "Republik" hochleben.

Der "Unpolitische" dagegen bewaffnet sich mit Romantik, Musik, quasireligiöser Demut und polterndem Nationalismus. Er verabscheut den politischen Optimismus und die soziale Philanthropie. Vor allem verabscheut er die politisierte Kunst: weil in ihr ästhetische Qualität und der Sinn für das Tragische in der Welt vor die Hunde gingen.

Für den Zivilisationsliteraten heißt es: Geschichte wird gemacht! Thomas Mann aber wehrt sich gegen die totale Politisierung des Lebens. Die Relevanz seiner Position wird deutlicher, wenn man bedenkt, dass der größte Teil des Buches 1917 entstand, im Jahr der russischen Revolution, dem Traum von der großen "Machbarkeit".

Mit dieser Ausgabe legt der Herausgeber Hermann Kurzke die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Arbeit an den "Betrachtungen" vor. Wenn er sie in der vorzüglichen Einleitung des umfangreichen Kommentarbands als "Zitatkunstwerk" rühmt, weiß er, wovon er spricht: Rund 4000 direkte oder indirekte Zitate hat er gefunden, die meisten davon konnte er identifizieren, indem er die Bücher, Sekundärwerke, Zeitungen und Journale konsultierte, aus denen sich Thomas Mann seine Ausführungen gewissermaßen zusammengoogelte. Die Kunst des "höheren Abschreibens", mit der Mann auch in seinen "Bildungsromanen" Gelehrsamkeit simuliert – auf den knapp 500 Seiten des Stellenkommentars lässt sie sich jetzt im Detail nachvollziehen.

Zudem will Kurzke die heimliche Liberalität der "Betrachtungen" deutlich machen. Der elaborierte, rhetorisch steile, manchmal selbstgefällig ziselierte Stil sorgt eigentlich für geringe Verwechslungsgefahr mit rechten Pamphleten, wie sie seinerzeit im Schwange waren. Ironisch sind die inneren Widersprüche des Werkes: dass ein Schriftsteller in Kriegszeiten tapfer Haltung bekennen will, und sich dann – als Dirigent eines gewaltigen Stimmenorchesters – hinter lauter fremden Tönen verschanzt. Dass er seine Meinung sagen will – und virtuose Rollenprosa produziert. Dass er sich trotzig zum Obrigkeitsstaat bekennt – und doch längst innerlich demokratisiert ist, als modern gebrochener, kosmopolitischer, intellektualisierter Autor. Thomas Mann hat selbst viel vom Zivilisationsliteraten in sich.

Gerade diese spannungsvolle Widersprüchlichkeit macht die Lektüre heute noch interessant. Die Ideen der "Betrachtungen" wirken weiter in den Werken Thomas Manns, bis zum "Doktor Faustus". Selten ist der politische Intellektuelle in seinen selbstgerechten "Tugendposen" schärfer vorgeführt worden als in diesem Buch, zu dessen Ironien es gehört, dass Thomas Mann damals kurz davor war, selbst ein engagierter Schriftsteller im Kampf gegen Hitler zu werden.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen
Herausgegeben und kommentiert von Hermann Kurzke
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2009
1430 Seiten, 80 Euro