Krieg in der Ukraine

Warum schwindet die Aufmerksamkeit?

06:35 Minuten
Eine Person hält vor dem Kanzleramt in Berlin ein Plakat mit der Aufschrift „War is not over“ in die Höhe.
Im Vergleich zum Frühjahr versammeln sich wie hier Anfang Juni vor dem Kanzleramt nur noch wenige Menschen zu Protesten gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. © picture alliance/ZUMAPRESS/Dominic Gwinn
Von Andre Zantow |
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Nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine scheinen sich hierzulande viele an Zerstörung und Gewalt gewöhnt zu haben. Von Massendemonstrationen wie im Frühjahr ist aber weit und breit nichts mehr zu sehen. Warum ist das so?
„Wir müssen natürlich ehrlich sein, wir wissen das von uns selbst, ich will mich da gar nicht ausnehmen, es gibt Gewöhnung.“ 
Im ZDF-Interview vor zwei Wochen beschreibt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), wie sich die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine verändert hat. 
„Auch die mediale Berichterstattung zieht einfach weiter. Und dann sind die Sommerferien oder der Tankrabatt oder die Fußballbundesliga irgendwann wichtiger, als wie viele Tote jetzt an dem Tag wieder zu beklagen sind.“

Es gibt weiterhin Proteste

Für die Menschen, die hier in Berlin an einem Samstag im Juni lautstark ein Energieembargo gegenüber Russland fordern, gibt es kein wichtigeres Thema als den Krieg in der Ukraine. Auch Krista-Marija demonstriert mit. 
„Wir haben ganz stark eine Unterstützung von der deutschen Zivilbevölkerung wahrgenommen. Und dafür bedanken wir uns. Auch mit der heutigen Demonstration.“ 

300 Demonstranten sind übrig geblieben

Hunderttausende Geflüchtete aus der Ukraine wurden in Deutschland aufgenommen, Millionen Euro gespendet und Hunderttausende gingen bundesweit auf die Straßen. Heute – ein paar Monate später – laufen 300 Menschen mit Ukraine-Flaggen in Richtung Kanzleramt. Krista-Marija, deren Mutter aus der Ukraine stammt, erklärt das so: 

„Das ist der sogenannte Krim-Effekt. Wir haben das auch 2014 gesehen. Das war ein ganz klarer Völkerrechtsbruch und trotzdem hat der Westen nicht ... also hat zwar Sanktionen erlassen, aber die waren nicht stark genug, die waren nicht deutlich genug. Und die breite Bevölkerung hat sich nicht wirklich dafür interessiert, würde ich sagen.“

Krista-Marija, Demonstrierende

Das war zumindest nach dem Beginn des Überfalls der russischen Truppen im Februar anders. Seitdem habe die Aufmerksamkeit hierzulande abgenommen, beobachtet Krista-Marija. Der Verein „Vitsche“, in dem sie sich engagiert, organisiert deshalb jede Woche ein bis zwei Demonstrationen in Berlin, dazu Kulturveranstaltungen, Gespräche mit Parteien und Posting auf den Social-Media-Plattformen, um die Ukraine weiterhin präsent zu halten, was schwieriger werde: 
„Es kommen nicht mehr so viele Flüchtlinge an. Man fühlt sich selber nicht so bedroht. Was jetzt in Deutschland mehr in den Fokus gerät, sind die steigenden Preise, die steigenden Tankpreise. Und dadurch, dass es in Deutschland auch viel als 'Ukraine-Krieg' geframt wird, wird auch oft eine Schuld, meiner Meinung nach, verschoben von Russland als Aggressor zur Ukraine, die nicht aufgibt.“

Stumpft man ab?

Umso länger der Krieg dauert, umso weniger Hilfe könnte es geben für die Ukraine, so die Befürchtung vieler Demonstrierender. Und in der Tat hat sich einiges verändert – auch in der Medienberichterstattung.
„In den ersten Tagen, glaube ich, habe ich bei allem, was ich eingesprochen habe, bei jedem zweiten O-Ton, bin ich in Tränen ausgebrochen. Es war sehr, sehr schwer zu berichten. Jetzt ist es etwas anders. Ich traue mich gar nicht zu sagen, dass man etwas abgestumpft ist, aber ich schätze, das ist nicht der Fall, sondern man hat sich mehr oder weniger daran gewöhnt, wie grausam der Krieg ist.“
Palina Milling ist vom ersten Kriegstag an dabei. Für die ARD berichtet sie fast jeden Tag über die Lage in der Ukraine. Sie selbst kommt aus Belarus, hat Freunde und Verwandte in der ganzen Region und versucht, jeden Tag neue Hintergründe über den Krieg zu liefern.
„Kein Raketenzählen sozusagen, sondern die Geschichten der Menschen, der Militärangehörigen, auch der Regierungen, das so zu erzählen, dass man einen Kontext hat und ein bisschen das Gefühl hat, den Krieg verfolgen zu müssen. Ich glaube, es ist für viele nicht so spannend mittlerweile, leider. Und das trotzdem immer wieder ins Bewusstsein zu rufen für die Menschen, das sehe ich momentan als die Herausforderung", sagt Palina Milling.

"Kriegsmüdigkeit" macht sich breit

Man könne nicht im "ständigen Alarmzustand" leben, sagt auch der Publizist Martin Bialecki. Gleichzeitig kritisiert er eine seiner Wahrnehmung nach wachsende „Kriegsmüdigkeit“. Generell werde zu wenig verstanden, wie wichtig Außen- und Sicherheitspolitik für das persönliche Leben seien: „Warten wir auf den Herbst, wenn es dann kalt wird und die Gasspeicher leer sind. Dann ist es eben nicht egal gewesen, wer im Weißen Haus sitzt und wer im Kreml sitzt und wer hier die Hände an welcher Gasleitung hat.“ Man müsse sich dafür interessieren und so gut es geht einmischen, so der Chefredakteur der Zeitschrift für Internationale Politik .
Aber auch die Journalistin Palina Milling muss hin und wieder weggucken und die schrecklichen Bilder ausschalten: „Ich muss tatsächlich auch mal zwischendurch Pause machen und auch mal etwas Schönes sehen und erleben. Das habe ich für mich feststellen müssen. Nicht nur im Krieg zu versinken, in der Informationsflut, sondern auch bewusst zu sagen, es ist in Ordnung auch mal etwas Schönes zu sehen.“

Die Normalität des Krieges

„Das ist ein psychologischer Schutzmechanismus, der uns vor Überlastung, vor Überforderung schützt", sagt Ulrich Wagner. Er ist Sozialpsychologe an der Uni Marburg. „Und wir beobachten diesen Schutzmechanismen ja nicht nur für jeden Einzelnen von uns, dass wir als Person solche Belastungen ausblenden, nicht mehr drüber nachdenken wollen, wir tun das ja auch als Gesellschaft.“ 
Und als Gesellschaft sei es normal, irgendwann Abstand zu nehmen. Sich daran zu gewöhnen. Ähnlich ist es auch bei anderen Kriegen und Krisen: im Jemen, in Afghanistan, in Syrien. 

„Weil wir uns auf Dauer nicht mit den Gefühlen von Mitleid, von Ungerechtigkeit und Kontrollverlust auf allen diesen Ebenen bei allen diesen Ereignissen auseinandersetzen können. Auch um uns selbst zu schützen, um uns selbst nicht zu belasten, macht es aus psychologischer Sicht Sinn, sich auf einzelne Ereignisse zu konzentrieren und andere auszublenden.“ 

Ulrich Wagner, Sozialpsychologe

Das sei natürlich hart für die Menschen, die direkt leiden in der Ukraine oder in anderen Kriegen und Hungersnöten, sagt der Sozialpsychologe. Für Sie bräuchten wir weiterhin Empathie und Hilfe. Und trotzdem könne der eigene Alltag weitergehen. 
„Ob wir in den Urlaub fahren oder nicht, ändert nichts daran, wie die Kriegsereignisse in der Ukraine sind. Gesellschaften müssen sich an solche schlimmen Ereignisse gewöhnen", rät Ulrich Wagner. "Sie müssen natürlich auch alles tun, um gegen solche schlimmen Ereignisse vorzugehen, tatsächlich zur Lösung solcher Probleme, zur Beendigung von Schießen und von Hungersnöten, beizutragen. Aber wir dürfen unser individuelles Leben nicht komplett von solchen furchtbaren Ereignissen bestimmen lassen.“ 

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