Sprache als Propaganda

    Wie mit Worten Krieg geführt wird

    Fußgänger gehen an einer Werbetafel vorbei, auf der ein Bild des russischen Präsidenten Wladimir Putin und ein Zitat aus seiner jüngsten Rede an die Nation abgebildet sind: "Wir hatten keine andere Chance, als anders zu handeln".
    Mit Falschbehauptungen wie dem angeblichen "Genozid" an der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine versucht Putin, sich die Unterstützung der Russen zu sichern. © AFP / Sergei Mikhailichenko
    "Militärische Sonderoperation" zur Befreiung von "Volksrepubliken": Putins Propaganda will nicht nur den Krieg verharmlosen. Sie versucht auch, den Gegner zu entwürdigen, dem nicht einmal die Rolle des Opfers zugestanden wird, kritisiert Bijan Moini.
    „Militärische Sonderoperation“: So bezeichnet Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In den Ohren all der Menschen, die dort um ihre Freiheit und ihr Leben kämpfen, muss das wie Hohn klingen.
    Die Propaganda läuft auf Hochtouren: So wie Hitlers Truppen am 1. September 1939 gegen Polen nur „zurückgeschossen“ haben, erfindet Putin einen Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine. Er will nicht eine frei gewählte Regierung stürzen, sondern das Land vom „Nazismus befreien“. Imperialistische Ziele verfolgt er erst recht nicht, sondern er „wehrt sich“ gegen die NATO, ein Defensivbündnis.
    Die Zerstörung eines Kinderkrankenhauses wird zum Schlag gegen eine rechtsextreme Miliz. Den gescheiterten Blitzkrieg und die dauerhaften Attacken gegen die Zivilbevölkerung stellt Putin als „planmäßigen“ Kriegsverlauf dar. Wege zur Flucht aus diesem Alptraum nennt er „humanitäre Korridore“, also eine Art Wohltat. Mit Gewalt gegründete und regierte Regionen „Volksrepubliken“. Und er lässt diesen Worten im Fernsehen die passenden Bilder folgen.

    Die kleine Schwester der Lüge

    Das hat eine Vielzahl von Effekten: Es schafft im Inland Unterstützung und stärkt die Moral des Militärs. Es entwürdigt den Gegner, weil ihm nicht einmal die Rolle des Opfers zugestanden wird. Es verunsichert das Ausland. Es bindet Ressourcen, weil nicht nur der Angriff bekämpft werden muss, sondern auch die Behauptung, es sei gar keiner. Und es bietet Verbündeten Argumente, um ihre Untätigkeit oder Unterstützung zu rechtfertigen.
    Die Beschönigung ist uns Menschen sehr vertraut. Sie ist der Lüge kleine Schwester, wirkt wie ein Zugeständnis an die Wahrheit, nicht wie ihr Gegenteil. Inszenierte Fotos, selektive Erinnerung, unsere Selbstwahrnehmung, Lebensläufe, Arbeitszeugnisse, Werbung, Regeln der Höflichkeit, im Grunde jedes verschriftlichte Gesetz – sie alle malen die Wirklichkeit schöner, als sie ist.

    Euphemismus ist eine mächtige Waffe

    In der Sprache nennen wir die Beschönigung Euphemismus, und der ist ein mächtiges Instrument: Er wertet auf, wenn wir von Hausangestellten statt von Dienern sprechen oder von Seniorenresidenzen statt von Altersheimen. Er schont, wenn wir Kritik als Lob verpacken oder Schwerkranken Komplimente machen. Und er verhüllt, wenn Massenentlassungen zur „Umstrukturierung“ werden oder die Depression zum Burnout.
    Zwischen Fassade und Farce liegen auch im Privatleben nur Nuancen. Und doch trägt sie in vielen, vielleicht den meisten Fällen zu unserem Zusammenleben bei, indem sie uns etwa erlaubt, über Tabus zu sprechen.

    Politische Beschönigungen sind gefährliche Propaganda

    Das aber gilt nicht für die Politik. Gut gemeinte Schönfärberei ist hier bevormundend, schlecht gemeinte schlicht Propaganda – und damit gefährlich. Wer will schon „Gefährder“ vor Überwachung schützen, wie spekulativ ihre angebliche Gefährlichkeit auch ist? Wie schlimm können „Erweiterte Verhörtechniken“ schon sein? Wie dringend klingt ein „Klimawandel“?
    Was für Sicherheitspolitik und Klimakrise gilt, betrifft auch Pandemie und Krieg – Beschönigungen laden zur Untätigkeit ein und führen so zu Frust, Zerstörung und im schlimmsten Fall zum Tod. Die Beschönigung hat deshalb weder im Krieg etwas zu suchen noch sonst in der Politik.
    Sagen, was ist – das sollte selbstverständlich sein. Widerstand gegen Schönfärberei ist deshalb wichtig. Statt eines Euphemismus den akkuraten Begriff zu nutzen, ist nur der Anfang. Wir müssen darüber hinaus die Beschönigung als solche klar benennen, sie anprangern, ihre Verwendung als Argument dafür nutzen, dass die durch sie getarnte Handlung offenbar mindestens problematisch ist.
    Denn die Beschönigung ist eben auch ein Hinweis auf die Wahrheit – im Fall der Ukraine, dass Russland sie angegriffen hat und nicht Frieden stiftet, sondern Krieg.

    Bijan Moini ist Rechtsanwalt und Politologe und leitet das Legal Team der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Nach dem Rechtsreferendariat in Berlin und Hong Kong arbeitete er drei Jahre für eine Wirtschaftskanzlei. Dann kündigte er, um seinen Roman „Der Würfel“ zu schreiben (2019, Atrium). Zuletzt erschien von ihm bei Hoffmann und Campe „Unser gutes Recht. Was hinter den Gesetzen steckt“ – ein anekdotischer Überblick über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

    Bijan Moini
    © Thomas Friedrich Schäfer