Fürs Klima und gegen Putin

Bildet Fahrgemeinschaften!

Illustration mehrerer Menschen, die in einem Auto zusammen sitzen.
Fahrgemeinschaften können helfen, wichtige Ressourcen zu schonen. © imago / Westend61
Ein Kommentar von Mathias Greffrath · 29.03.2022
Seit Wochen wird verhandelt, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Derweil sterben weiter Menschen, auch hier fühlen sich die Bürger machtlos gegenüber Putins aggressiver Politik. Doch sie könnten ein Zeichen setzen, meint Mathias Greffrath.
Mehrheitlich sind wir für einen Boykott von russischem Öl und Gas, gleichzeitig fürchten wir uns vor steigenden Preisen – für Energie zum Heizen und zum Fahren. Die Politik reagiert mit Appellen, Pullover anzuziehen und langsamer zu fahren, freiwillig natürlich, mit der Suche nach Ersatzlieferanten – aber die sind allesamt dubios – mit Tankzuschüssen und Familienhilfen und Nahverkehrstickets.
Aber die Maßnahmen müssen erst durch die Prozeduren von Parlament und Bundesrat. Derweil geht der Krieg in die fünfte Woche, fallen die Bomben, fliehen Millionen.

Was können die Normalbürger tun?

Er beschäftigt uns jeden Tag. Aber was können wir, die Normalbürger, tun? Viele helfen auf Bahnhöfen und in Unterkünften, wer kann, stellt seine Wohnung zur Verfügung. Wir spenden und in den großen Städten folgen wir der verzweifelten Aufforderung von Präsident Selenskyj, auf den Straßen zu demonstrieren.
Mehr geht nicht? Man bräuchte, sagte einer meiner älteren Freunde, wieder so etwas wie den Roten Punkt. Der Rote Punkt, das war 1969 eine Bürgeraktion in Hannover gegen die Verteuerung der Straßenbahntickets von 70 auf 80 Pfennig. Es gab Proteste, die nützten nichts, Studenten blockierten die Gleise, die Polizei griff heftig ein, die Hannoveraner solidarisieren sich, viele setzten sich dazu.

Eine Gemeinschaft wurde geschaffen

Der öffentliche Nahverkehr wurde lahmgelegt, eine Woche lang – und trotzdem kamen fast alle pünktlich zur Arbeit, zur Schule, zum Arzt. Wegen des Roten Punktes. Der hatte zehn Zentimeter Durchmesser, sympathisierende Autofahrer konnten ihn aus Flugblättern ausschneiden oder aus den hannoverschen Zeitungen und hinter die Windschutzscheibe kleben. Selbst die Stadtverwaltung ließ 50.000 Rote Punkte drucken. Der Rote Punkt hieß: Ich nehme mit.
Immer mehr Motorisierte machten mit. An Haltestellen und Kreuzungen regelten Aktivisten den Verkehr so professionell wie Polizisten. Es machte allen Beteiligten einen Riesenspaß, die Aktion war sportlich und schaffte eine neue Gemeinschaft in der Stadt. Man demonstrierte nicht nur, sondern man organisierte eine funktionierende Alternative.
Für eine Weile erlebte sich die Bürgergesellschaft als Akteur. Nach einer Woche schwenkte die Stadtregierung ein, und sagte die Kommunalisierung der Verkehrsbetriebe zu. Und weil nichts so überzeugend ist wie der Erfolg, gab es noch ein paar Jahre lang Rote-Punkt-Aktionen in einem Dutzend anderer Städte.

Wie wäre es heute mit einem blau-gelben Punkt?

Das war in den 60er-Jahren. Und heute? Für einen Augenblick stelle ich mir vor, dass wir nicht warten, bis irgendwann nach Ostern die Neun-Euro-Monatskarten verteilt werden, sondern dass jetzt schon Tausende von Autofahrern in allen Städten, in allen Landkreisen einen Punkt, diesmal einen blau-gelben, hinter die Windschutzscheibe kleben, die Wartenden an Haltestellen und Kreuzungen so einen Punkt hochhalten.
Dass das um sich greift: Etwas dazu beitragen, um Putin auszubremsen, den Benzinpreisspekulanten die Nachfrage zu kürzen und zur gleichen Zeit ein wenig über die ökologisch wie sozial wahnwitzige Gewohnheit hinauszuwachsen, die uns millionenfach morgens und abends allein in den Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor sitzen lässt, und drei Plätze sind frei.

Revolte gegen den Individualismus

Es wäre auch eine kleine Revolte gegen den Individualismus des Konsums und des Verkehrs, den wir so lieb gewonnen haben – und der uns manchmal so eng vorkommt. Es würde Reibung erzeugen und Wärme und die Zahl der Begegnungen erhöhen. Wir würden uns als Gesellschaft erleben. Als Verschiedene, die sich zusammenfinden können, um etwas Notwendiges zu tun. Gegen Putin und für das Klima.
Dieser Gedanke wird Ihnen weltfremd vorkommen – oder nostalgisch. Mir auch. Man kann so etwas auch nicht herbeiplanen, und es sind immer drei oder fünf oder 50, die den Anfang machen. Manchmal werden es dann mehr, und wo es klappt, verändert es etwas, so wie damals in Hannover.

Matthias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für „Die Zeit“, die taz und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: „Montaigne – Leben in Zwischenzeiten“ und das Theaterstück „Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?“

Ein Mann mit grauen Haaren sitzt auf einer Bühne.
© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
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