Krieg in urbanen Problemzonen

Der Publizist Owen Jones befasst sich mit den Überresten der einst stolzen Arbeiterklasse Großbritanniens. Dabei hat er nicht nur ein scharfes Auge für die verarmten und bildungsfernen "Prolls", sondern seziert auch, wie deren Dämonisierung den Klassenkampf de facto wieder einführt.
Spätestens als 2008 die ersten Giga-Bank pleite ging, schwante vielen Menschen, dass es wohl etwas voreilig war, 1989 den Sieg des Kapitalismus auszurufen. Linkes Denken schien damals ein für allemal als Hirngespinst enttarnt, sein terminologisches Gebäude sturmreif geschossen, ein paar Restbegriffe kapitalismuskompatibel instand gesetzt: "revolutionär" als Gütesiegel für jede mickrige Marktneuheit; "sozialistisch" als verächtliches Synonym für unmodern; "Klasse" als Wortpartikel der angeblich klassenlosen Gesellschaft.

Die Prophezeiung einer klassenkonfliktfreien neuen Welt hat sich bekanntlich nicht ganz erfüllt. Der Crash von 2008 wurde zur Sturzgeburt neuer antikapitalistischer Energie, jetzt weltweit vernetzt. 2010/11 die nächste Zäsur. Plötzlich explodiert Protest, scheinbar zusammenhanglos: Studentendemos, "Occupy!"- und "Indignados"-Tumulte, "arabischer Frühling". Das ist, in groben Zügen, die Szenerie, in der dieses Buch - nicht nur in England - seine Wucht entfaltet hat: "Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse".

Sein Autor Owen Jones, geboren 1984, aufgewachsen im traditionellen working-class-Milieu um Manchester herum, war Gewerkschafts- und Labour-Aktivist, hat einen Oxford-Abschluss in (US-amerikanischer) Geschichte und lebt, offen schwul und explizit sozialistisch, als freier Publizist in London. Eines Dezemberabends hört er, wie der Gastgeber eines schicken Dinners seine bankkrisengebeutelten Gäste mit einem Witz auflockert: "Ist doch schlimm, dass Woolworth zumacht. Wo kaufen jetzt die ganzen Prolls ihre Weihnachtsgeschenke?" Es sind linksliberale, multikultivierte Männer und Frauen, nicht alle hetero. Einen rassistisch oder sexistisch getönten Spruch hätten sie nicht geduldet. Bei Häme über billigheimernde arme Leute dagegen zuckt niemand auch nur zusammen.

Jones spürt dahinter einen virulenten, aber verleugneten Klassenhass von oben und geht ihm in einer Serie brillant recherchierter Reportagen nach. Das Hassobjekt, entdeckt er, ist eine höchst erfolgreiche politisch-mediale Konstruktion durch Dämonisierung.

Jene "Prolls" (englisch chavs) sind die Überreste der von Thatcher und Blair zerschlagenen stolzen alten Arbeiterklasse, die "Generation Stütze". Verarmt, deklassiert, bildungsfern, also ohne Aufstiegschancen, ethnisch heterogen - kurz: ideal als Sündenbock und Mülleimer für Frust und Aggression aller anderen, weil öffentlich wehrlos.

Jones hat nicht nur ein scharfes Auge für die so Entwürdigten. Er seziert auch, wie deren Dämonisierung rechtsradikalem Populismus die Bühne bereitet, ethnische Konflikte verschärft und den Klassenkampf de facto wieder einführt, als "Krieg in urbanen Problemzonen".

Sein Buch erscheint im Frühjahr 2011 und schlägt ein wie der Blitz. Kurz danach belegt das renommierte Meinungsforschungsinstitut BritainThinks seine Analyse durch Zahlen und Fakten, im August folgt die praktische Bestätigung: Es brennt überall, allein in London so heftig wie seit den deutschen Bomben nicht mehr.

Jones ergänzt die Neuauflage. Und die ist jetzt fast gleichzeitig auf Deutsch erschienen und sollte unbedingt auch hier einschlagen. Denn nichts von dem, was da drin steht, ist exotisch in einem Land, in dem Häme über "Unterschichtfernsehen" ebenso wenige Zuckungen auslöst.

Besprochen von Pieke Biermann

Owen Jones: Prolls - Die Dämonisierung der Arbeiterklasse
Deutsch von Christoph Fricker
Verlag André Thiele, Mainz 2012
314 Seiten, 18,90 Euro
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