Krieg in Syrien

"Eine Schande für unser Jahrhundert"

Porträtfoto des Oberhaupts der maronitischen Christen des Libanon, des Patriarchen Béchara Pierre Kardinal Raï
Das Oberhaupt der maronitischen Christen des Libanon, Patriarch Béchara Pierre Kardinal Raï in Köln © picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Patriarch Béchara Raï im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 06.12.2015
Ein Großteil der Millionen Flüchtlinge aus Syrien leben unter schwierigsten Bedingungen in den Nachbarländern wie Jordanien. Je länger der Krieg dauere, desto mehr Terroristen werde es geben, warnt der Patriarch der maronitischen Kirche, Béchara Raï aus dem Libanon.
Anne Françoise Weber: Wir hören täglich in den Nachrichten von diesem Krieg, aber man muss sich die Zahlen doch immer wieder vor Augen führen, zumal angesichts der hiesigen Diskussion um Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen: In Syrien wurden schon rund zwölf Millionen Menschen durch den Krieg vertrieben, davon haben vier Millionen das Land verlassen. Die meisten von ihnen leben jetzt unter schwierigsten Bedingungen in den Nachbarländern Türkei, Jordanien und Libanon.
Was diese Vertreibungen anrichten und was sie für die lokalen Kirchen bedeuten, davon weiß der Patriarch der Maroniten, Kardinal Béchara Raï, zu berichten. Er war in der vergangenen Woche zu Besuch in Deutschland, unter anderem um eine Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz zum Thema Syrien vorzustellen. Die maronitische Kirche ist vor allem im Libanon angesiedelt, wo auch der Patriarch seinen Sitz hat - aber es gibt auch drei Diözesen in Syrien. Die Maroniten unterstehen seit dem 12. Jahrhundert dem römischen Papst, sie haben aber ihre eigene Liturgie, außerdem dürfen ihre Priester verheiratet sein. Ihr heutiger Patriarch wurde von Papst Benedikt zum Kardinal ernannt. Ich habe Patriarch Béchara Raï in Berlin getroffen und ihn zunächst gefragt, ob er ein völliges Verschwinden der Christen im Nahen Osten, oder zumindest in Syrien und im Irak befürchtet.
Patriarch Béchara Raï: Nein, das völlige Verschwinden sehe ich nicht. Das Problem liegt nicht zwischen Christen und Völkern der Region, und auch nicht zwischen Christen und Regierenden. Es ist das Problem der fundamentalistisch-terroristischen Organisationen, die Christen und Muslime angreifen. Man kann nicht einfach sagen, dass die Christen verschwinden werden. Wenn wir von den Christen des Mittleren Ostens sprechen - in Syrien, Irak, Saudi-Arabien, Libanon, Ägypten - dann sprechen wir von Kirchen, die seit 2000 Jahren mit ihren Organisationen, ihren Strukturen da verwurzelt sind. Die Zahl kann aufgrund von Krieg und Terrorismus zu- oder abnehmen.
Die internationale Gemeinschaft muss die klare, mutige Entscheidung fällen, den Krieg zu beenden und gegen die Terroristen zu kämpfen, damit alle Menschen des Mittleren Ostens, Christen wie Muslime, nach Hause zurückkehren können. Denn die Terroristen schaden Muslimen und Christen. Man spürt es stärker bei den Christen, weil es weniger sind. Aber wenn der Krieg weitergeht, müssen die Christen, ebenso wie die Muslime, einen sicheren Ort finden, an dem sie in Würde leben können. Aber das heißt nicht, dass die Kirche verschwindet.
"Eine große wirtschaftliche und soziale Last" für den Libanon
Weber: Der Krieg muss aufhören, aber kann eine Lösung mit Präsident Assad gefunden werden, der ja doch seine Bevölkerung, auch friedliche Demonstrationen seiner Bevölkerung, mit Gewalt hat niederschlagen lassen?
Patriarch Raï: Man muss den Krieg in Syrien differenziert betrachten. Es hat mit Forderungen des Volkes begonnen, mit friedlichen Demonstrationen, und es gab eine politische Opposition. Aber der Krieg läuft nicht zwischen der Opposition und Assad. Der Krieg läuft zwischen Assad, dem Regime, und den terroristischen Organisationen Al-Qaida, al-Nusra, dem IS, den Söldnern, die von überall kommen, und der Opposition. Die Lösung muss also nicht zwischen dem Regime und den terroristischen Organisationen gefunden werden, sondern zwischen dem Regime und der Opposition. Das muss eine Lösung unter Syrern sein, Opposition und Regime - aber nicht mit den terroristischen Organisationen. Die herrschen jetzt vor Ort, darum ist es wichtig, auf diese Unterscheidung zu achten.
Weber: Der Libanon beherbergt zur Zeit 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge. Abgesehen von der großen wirtschaftlichen und sozialen Aufgabe, fürchten Sie auch eine Destabilisierung des Libanon und seines multikonfessionellen Gleichgewichts?
Patriarch Raï: Ja, das ist eine große Gefahr. Wenn wir jetzt mal von der humanitären Hilfe absehen, die wir unterstützen – das sind Menschen. Aber es ist eine große wirtschaftliche Last. Anderthalb Millionen, zählen Sie noch die halbe Million palästinensischer Flüchtlinge dazu, dann macht das zwei Millionen. Die libanesische Bevölkerung umfasst vier Millionen, es ist also die Hälfte. Heute wandern die Libanesen aus, weil wir in Folge des Krieges eine starke wirtschaftliche Krise erleiden. Die jungen Leute gehen, die Vertriebenen kommen. Und man muss ihnen nicht nur zu essen geben. Man muss sich auch um die Schulbildung bemühen. Dieses Jahr gibt es 350.000 syrische Schüler – genau so viele wie libanesische, da muss man Schulen, Lehrer und Platz finden. Und wo ist die Infrastruktur? Sie leben in einer Ebene, da braucht es Strom, Wasser und so weiter. Es ist also eine große wirtschaftliche und soziale Last.
Syrische Flüchtlinge: drei Kinder im Libanon in einem Lager bei Baalbek.
Syrische Flüchtlinge: drei Kinder im Libanon in einem Lager bei Baalbek.© AFP
Wenn nun der Krieg weitergeht und die Menschen im Libanon bleiben, darf man nicht vergessen, dass die Geburtenrate ansteigen wird. Für die Muslime ist die Ehe zur Fortpflanzung gedacht. Ihre Zahl wird also jährlich steigen. Das wird eine politische Last werden. Und sie können instrumentalisiert werden durch die terroristischen Gruppen. Denn Leute, die ihr Haus verloren haben und im Elend leben, werden leicht instrumentalisiert. Die heutigen Terroristen sind dazu geworden, weil sie in ihren Ländern Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Entbehrungen erleben und sich für terroristische Aktivitäten verkaufen. Wir sind dabei, Menschen für den Terrorismus vorzubereiten.
Was den Libanon betrifft, kann die Präsenz der Flüchtlinge die libanesische Identität und Kultur verändern. Das Land ist auf dem Gleichgewicht zwischen Muslimen und Christen gegründet. Wir fordern, dass der Krieg in Syrien aufhört. Die zwölf Millionen vertriebenen Syrer müssen zurückkehren können. Die internationale Gemeinschaft muss friedliche politische Lösungen finden. Es ist eine Schande, dass der Krieg weitergeht. Und alle müssen gegen die terroristischen Organisationen kämpfen – ansonsten bedrohen wir den Frieden in der Welt und alle leben in Schrecken.
"Nicht länger nur auf eigene Interessen schauen"
Weber: Unterstützen Sie die deutsche Aufnahmepolitik für syrische Flüchtlinge oder würden Sie sich eine andere Herangehensweise wünschen?
Patriarch Raï: Wir danken Deutschland für alles, was es zur Hilfe für die Flüchtlinge, die Vertriebenen, die Armen tut. Schon vor dem Krieg hat es das vor allem durch die humanitären und sozialen kirchlichen Organisationen getan. Das geht weiter, und wir danken dafür; auch für die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Aber worum wir die Regierung bitten, ist, die Stimme zu erheben gegen den Krieg, für die Rückkehr der Vertriebenen, für einen dauerhaften, gerechten Frieden. Das muss man tun, um auf der Welt in Frieden zu leben.
Es reicht nicht, gegen die Auswirkungen anzugehen, man muss die Ursachen bekämpfen. So wie wenn man einen offenen Wasserhahn hat und sich das Zimmer mit Wasser füllt: Es bringt nichts, das Wasser aufzuwischen, man muss den Wasserhahn schließen und den Krieg stoppen. Denn täglich werden Häuser zerstört und Leute aus ihrer Gegend vertrieben. Man muss Mut aufbringen; die internationale und arabische Gemeinschaft darf nicht länger nur auf ihre eigenen wirtschaftlichen, politischen, strategischen Interessen schauen. Das muss aufhören. Sonst wird die menschliche Katastrophe weitergehen – das ist eine Schande für unser Jahrhundert.
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