Krieg im Kinderzimmer

Rezensiert von Kim Kindermann |
Einzelkinder werden oft bemitleidet: Sie müssen allein spielen, haben nur Erwachsene um sich herum und entwickeln sich daher zu kleinen egoistischen Monstern. Wie schön ist es da doch Geschwister zu haben! Aber stimmt das wirklich? Ist es wirklich so ein großes Glück einen Bruder oder einen Schwester zu haben? Das fragt sich auch der französische Kinderpsychologe Marcel Rufo in seinem Buch "Geschwisterliebe - Geschwisterhaß".
Wer Geschwister hat, der leidet sein Leben lang unter einer chronischen Krankheit. Mal treten akute Krisen auf, dann wieder verschwinden die Symptome, die da wären Eifersucht, Rivalität und Aggressivität oder es herrscht eitel Sonnenschein. Dabei muss klar sein, freiwillig hat niemand dieses Schicksal gewählt, es wird einem von den Eltern auferlegt.

Die Eltern sind es, die bereits mit der Planung von Kind Nummer 2, den Grundstock für die späteren Probleme legen: Denn jedes neue Geschwisterchen ist ein unerwünschter Eindringling, der die gewohnte Familienordnung auf den Kopf stellt und alle zwingt, sich neu zu positionieren. Denn kein Kind ist glücklich darüber, sein Zimmer oder sein Spielzeug mit einem Bruder oder einer Schwester zu teilen. Auch wenn die Erwachsenen das anders sehen.

Erschwert wird die Situation vor allem dadurch, dass Eltern hoffen, bei jedem weitern Kind vieles besser zu machen. Schließlich verfügen sie nach dem ersten Kind bereits über eine gewisse Erfahrung. Das zweite Kind kann also nur gut und perfekt werden. Für das erste Kind beginnt eine harte Zeit, fortan gilt es, um die Liebe und Anerkennung der Eltern zu kämpfen. Getreu dem darwinistischen Motto, der Beste siegt, wird einfalls- und fintenreich um die Zuwendung von Vater und Mutter erbarmungslos gerungen.

Und so berichtet der französische Kinderpsychologe Marcel Rufo in seinem Buch "Geschwisterliebe- Geschwisterhaß" von Kindern, die plötzlich wieder gewickelt werden wollen, nach einem Fläschchen verlangen oder die in krassen Fällen sogar mit dem Sprechen und Wachsen aufhören. Die geschwisterliche Rivalität, glaubt man Rufo, ist grenzenlos: Da wird jedes Lob, jeder Kuss, jedes Geschenk genaustens beobachtet und gezählt. Und wehe, da stimmt was nicht. Schon die kleinste Ungerechtigkeit hat heftige Eifersuchtsattacken zur Folge. Schrecklich lesen sich Rufos zahlreiche Fallbeispiele, die jeweils die Entwicklung eines Kindes aus seiner Position in der Familie heraus schildern, also etwa die Position des Erstgeboren, des Mittelkindes oder die des Nesthäkchens.

Bange fragt sich der Leser bereits nach den ersten Seiten, soll ich überhaupt mehrere Kinder bekommen? Doch was sich wie ein Alptraum für Geschwisterkinder und natürlich auch deren Eltern anhört, ist gut und notwendig. Denn nachdem Marcel Rufo den Krieg im Kinderzimmer schonungslos offen gelegt hat, überrascht er mit der Schlussfolgerung, dass Eifersucht für die Stärkung der kindlichen Persönlichkeit unabdingbar ist. Eifersucht, so der Autor, ist überhaupt erst die Voraussetzung für eine gesunde Ablösung und Selbstständigkeit der Kinder vom Elternhaus.

Rufo empfiehlt den Eltern daher, Konflikte zwischen Geschwistern ruhig zuzulassen und nicht von vorneherein zu unterbinden. Sie sollen nur als Vermittler schlichtend in den Konflikt eingreifen und den Dialog unter den Geschwistern fördern, da nur ein ausgelebter Konflikt dabei helfen kann, sich vom anderen abzugrenzen. Nur so lernen Kinder: Es gibt ein Ich und ein Du, wir sind zwei verschiedene Personen. Unterstützen, das betont Marcel Rufo deutlich, können Eltern diesen Prozess am besten, indem sie jedes ihrer Kinder seiner Einzigartigkeit entsprechend behandeln. Was nichts anderes bedeutet, dass Eltern lernen müssen, sich von Idealvorstellungen bezüglich ihrer Kinder zu verabschieden. Sie müssen akzeptieren, dass ihr Kind nicht schon allein durch den Geburtsrang eine festgelegte Stellung in der Familie hat. Also, dass der Erstgeborene nicht automatisch ein Perfektionist und der Letztgeborene ein Rebell ist. Allein die elterliche Zuwendung entscheidet darüber, wie sich Brüder und Schwestern miteinander entwickeln und später verstehen. Marcel Rufo fordert damit die Eltern heraus: Kind ist nicht gleich Kind, so seine eingängige These. Auch dann nicht, wenn sie sich die gleichen Gene teilen.

Eltern sollen sich daher stets die Mühe machen, ihrem Kind auf der Suche nach der eigenen Identität zu helfen. Auch oder besser gesagt gerade dann, wenn es anstrengend und mühsam wird. Dies gilt umso mehr, wenn Eltern ein Lieblingskind haben - und tatsächlich haben die meisten eines. Dann, so Marcel Rufo, gilt die Mühe vor allem dem Kind, mit dem man nicht so zufrieden ist. Elternsein ist Arbeit. Eine aufreibende, die sich aber lohnt, denn am Ende steht eine zufriedene Familiengemeinschaft, in der sich Geschwisterkinder wohl und geborgen fühlen. Und zwar auch über den Tod der Eltern hinaus! Es ist vor allem Marcel Rufos schonungslose Offenheit, die sein Buch so lesenwert macht. Er gibt sich nicht mit dem üblichen Klischee der glücklichen Familie ab; er schreibt über das oft auch anstrengende, nervenaufreibende Leben von Eltern und Geschwistern. Und das tut gut, besonders auch deshalb, weil Rufo stets in einer Mischung aus fundiertem Erfahrungswissen und Anekdotischem über das Thema schreibt. So wartet er zwar oft auch mit überraschenden Statements auf und gibt etwa den idealen Altersabstand zwischen Geschwistern mit sechs und nicht wie zumeist üblich mit drei Jahren an. Andererseits aber gibt er nie allgemeingültige Erziehungstipps. Vielmehr will er mit seinem Buch "Geschwisterliebe - Geschwisterhaß" den Blick für die Ambivalenz der geschwisterlichen Gefühle schärfen. Denn erst wenn Geschwister ohne Scheu darüber reden können, dass es gelegentlich die Hölle sein kann, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, erst dann besteht die Chance, dass sie auch das Glück verstehen können, genau diesen Bruder oder diese Schwester zu haben.

Marcel Rufo: Geschwisterliebe - Geschwisterhaß. Die prägendste Beziehung unserer Kindheit
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke
Piper Verlag
256 Seiten, Paperback, 8,90 Euro