Krieg für Frieden?

Gäste: Winfried Nachtwei, ehem. sicherheits- und abrüstungspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen und Achim Wohlgethan, ehem. Bundeswehr-Soldat und Autor |
Was soll, was darf die Bundeswehr in Afghanistan? Nicht erst seit dem Beschuss der beiden Tanklaster in Kundus Anfang September 2009 mit über 140 Toten steht der Einsatz der deutschen Soldaten im Kreuzfeuer der Kritik.
Ende 2001 war die Truppe angetreten mit dem Auftrag des Wiederaufbaus und der Stabilisierung – kein Wort von kämpferischen Auseinandersetzungen, geschweige denn von Krieg. Und heute 2010? Mittlerweile sind 4200 deutsche Soldaten vor Ort, das Mandat wurde gerade um ein Jahr verlängert. 36 deutsche Soldaten sind in den Jahren zu Tode gekommen, 17 davon im Einsatz oder Gefecht – sie sind sogar nach dem offiziellen Wortlaut "gefallen". Die Angriffe auf den deutschen Standort in Nordafghanistan sind in den letzten drei Jahren um das Achtfache gestiegen. Und der Rückhalt in der deutschen Bevölkerung schwindet, gleichzeitig mehren sich die Fragen über den Auftrag und als Ziel der Mission.
Sind wir im Krieg? Der ehemalige Verteidigungsminister Franz-Josef Jung wies dies noch scharf zurück, sein Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg spricht mittlerweile von "kriegsähnliche Zuständen".

"Wir sind eindeutig im Krieg", sagt der ehemalige Bundeswehr-Soldat Achim Wohlgetan. Er war 2002 und 2003 insgesamt elf Monate im Afghanistaneinsatz und hat über seine Erfahrungen zwei Aufsehen erregende Bücher geschrieben, die den Alltag und die Nöte der Soldaten unmittelbar beschreiben. "Wenn Sie sich einen längeren Schusswechsel mit den Taliban liefern, dann ist das Krieg."

Die Soldaten vor Ort könnten die hiesige Begriffsklauberei überhaupt nicht verstehen. Es sei von Anfang an ein Fehler gewesen, den Einsatz als "THW-Einsatz in Uniform" darzustellen.

Seine Analyse: "Wir haben uns über- und die Mission unterschätzt."

Anlässlich der Internationalen Afghanistan-Konferenz in London am 28.01.2010 stellten sich den deutschen Soldaten drängende Fragen:

"Hat irgendjemand irgendwann mal gesagt, was wir da sollen? Wie lange müssen wir noch hier bleiben? Was ist unser Ziel?"

Seine Forderung:

"Wir brauchen einen Stufenplan, der klarstellt, was wir in den nächsten zwei, fünf und zehn Jahren erreichen wollen. Darin muss geklärt werden, was mit der nachweislich korrupten afghanischen Regierung überhaupt machbar ist. Es macht keinen Sinn, Soldaten und Polizeikräfte auszubilden, wenn sie nicht bezahlt werden. Außerdem müssen wir wesentlich mehr Unterstützung für unsere Soldatinnen und Soldaten in der Öffentlichkeit herstellen, damit deutlich wird, was sie leisten."

Diese Fragen beschäftigen Winfried Nachtwei seit Jahren. Der ehemalige sicherheits- und abrüstungspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen gilt als einer der versiertesten Kenner der Problematik. Bevor er 2009 aus dem Bundestag ausgeschieden ist, hat er Afghanistan und die Soldaten mehrfach besucht. Er veröffentlicht sein Tagebuch auf seiner Homepage, schreibt lange Berichte, die von Ministerien, anderen Abgeordneten, sogar von den Soldaten vor Ort abgerufen werden. Seit 2007 veröffentlicht er auf seiner Internetseite auch seine "Better news statt bad news" und berichtet darin über die positive Entwicklung in Afghanistan.

Er warnt davor, das Wort Krieg undifferenziert zu verwenden:

"So unbestreitbar in einzelnen Distrikten und Provinzen eine (Klein-)Kriegssituation herrscht, so falsch ist es, den Gesamteinsatz der Bundeswehr als Kriegseinsatz zu bezeichnen. Das würde nicht nur dem Mandat widersprechen. Das hätte auch enorme Auswirkungen auf die Operationsführung, die Einsatzregeln. Folge wären eine Entgrenzung der Gewaltanwendung und eine Radikalisierung des bewaffneten Konflikts.""

Ziel der Mission sei und bleibe der Aufbau der Sicherheitsstruktur, die Ausbildung der dortigen Sicherheitskräfte und nicht die Jagd auf Taliban. Der Aufbau eigener Polizei und Armee sei auch deshalb wichtig, da Afghanistan nicht verloren werden dürfe, sonst sei der nächste Konflikt programmiert: Mit der Atommacht Pakistan, "das wäre der Supergau für die Welt".

Der Afghanistan-Experte mahnt aber auch zur Ehrlichkeit über die Realität des Bundeswehreinsatzes. Die Regierung sei mit dem Einsatz "nie offen, ehrlich und konkret" umgegangen. "Da wurde lieber beschönigt, als die ganze Wahrheit zu sagen."

Den aktuell diskutierten Abzugszeitraum 2014 / 2015 sieht er nur unter bestimmten Bedingungen realistisch:

"Dass bis dahin die Armee aber auch die Politiker einigermaßen eigenständig operieren können, und dass die Regierungsführung auf den verschiedenen Ebenen nach normalen Anforderungen funktioniert. Was nicht heißt, dass die Korruption bekämpft sein wird. Aber dass ein wichtiger Sprung getan wird in der Entwicklung des Landes, in der Landwirtschaft, dass auch der Bevölkerung deutlich wird, es bringt etwas, wir haben etwas davon."

"Krieg für Frieden? Der umstrittene Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan - Darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit Winfried Nachtwei und Achim Wohlgethan. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet:
Über Winfried Nachtwei
Über Achim Wohlgethan

Literaturhinweis:
Achim Wohlgethan: Endstation Kabul. Als deutscher Soldat in Afghanistan - ein Insiderbericht, Econ Verlag 2008
Achim Wohlgethan: Operation Kundus: Mein zweiter Einsatz in Afghanistan, Econ Verlag 2009