Krieg der Kinder

Moderation: Dieter Kassel |
In London greift die Gewalt unter Jugendlichen immer mehr um sich: Im diesem Jahr wurden bereits 14 Jugendliche von anderen Jugendlichen ermordet. Deutschlandradio-Korrespondent Martin Zagatta erklärt, dass es dabei in den meisten Fällen um Konflikte rivalisierender Drogenbanden handelt. In vielen Fällen ersetzten gewalttätige Banden die Familie, da ein Großteil der Jugendlichen aus zerbrochenen Familien stammt.
Dieter Kassel: 15 ermordete Jugendliche, ermordet von Jugendlichen. Das allein die Bilanz bisher in diesem Jahr in Großbritannien. Einer dieser Morde hat ein bisschen mehr Aufsehen erregt als die anderen, auch über das Vereinigte Königreich hinaus, die Ermordung des 18-jährigen Schauspielers Rob Knox, der im nächsten Harry-Potter-Film zu sehen sein wird. Sein Schicksal jedoch ist kein Einzelfall. Immer öfter werden Jugendliche in Großbritannien das Opfer anderer Jugendlicher, werden angegriffen, gequält oder sogar ermordet. An diesem Wochenende ist es ruhig zugegangen. Ob das, so grausam das klingt, Zufall ist oder mehr - darüber und über die Hintergründe wollen wir jetzt mit unserem Korrespondenten in London reden, mit Martin Zagatta. Guten Morgen, Herr Zagatta!

Martin Zagatta: Ja, guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Wenn man zumindest die überregionalen Medien in Großbritannien durchgeht, sieht es so aus, als sei an diesem Wochenende, was die brutalste Jugendgewalt angeht, nichts passiert. Ich habe es gerade schon gesagt, so zynisch das klingt, halten Sie das für Zufall oder greifen da schon die ersten Gegenmaßnahmen?

Zagatta: Das ist wahrscheinlich reiner Zufall, denn die Gegenmaßnahmen, die da ergriffen werden, die sind seit einigen Monaten auch schon in Kraft, die haben relativ wenig gebracht. Es hat jetzt in der vergangenen Woche, ist angelaufen eine Kampagne mit Videos, mit Fotos, mit sogenannten Schockfotos. Da zeigt man auch, welch schreckliche Verletzungen durch Stichwunden herbeigeführt werden. Da werden Leichen gezeigt als Schockkampagne. Aber ich glaube nicht, dass das so schnell eine Wirkung gehabt hat.

Kassel: Dieser eine Fall da des Schauspielers, der auch von einem 21-Jährigen umgebracht wurde, man hat den Täter oder den mutmaßlichen Täter schon. Der war insofern fast ein bisschen untypisch, weil, so wie die Geschichte berichtet wurde, der wirklich unschuldig zwischen die Fronten geraten ist. Was sind denn in der Regel die Hintergründe für derartige extreme Gewalt zwischen Jugendlichen?

Zagatta: In der Regel sind es zumindest in London, wo in diesem Jahr schon 14 Jugendliche wieder umgebracht wurden - im vergangenen Jahr, im gesamten Jahr waren es 27, in diesem Jahr schon wieder 14 -, in der Regel sind es Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden, die sich gegenseitig umbringen. Aber das ist keine Garantie, auch nicht, dass sich diese Morde nur in Vierteln, die als schwierig gelten, abspielen, dass sie da verübt werden.

Man kann da als Unschuldiger, und das ist immer häufiger der Fall, ganz leicht zwischen die Fronten kommen. Zum einen, wenn Auseinandersetzungen eskalieren, ganz einfach weil mittlerweile derart viele Jugendliche hier in Großbritannien, vor allem in den großen Städten, bewaffnet sind, und zum anderen spielen sich diese Morde teilweise mittlerweile auch schon in Vierteln ab, wo es zu Auseinandersetzungen kommt, die als relativ sicher gelten, also hier in Chelsea, in Hammersmith hat es so einen Mord nach einer Schulauseinandersetzung gegeben, also auch in Vierteln, die bisher als relativ sicher galten.

Kassel: Was sind das für Banden, die sich da gelegentlich bekämpfen?

Zagatta: Die unterschiedlichsten. Die schlimmsten Verbrechen gehen wohl von Drogenbanden hier in London zumindest aus, im Osten der Stadt, von Drogenbanden. Es soll in London rund 200 solcher Jugendbanden geben. Aber es gibt einfach auch Banden, die organisieren sich nach ihrem Stadtviertel, sogenannte Postleitzahlbanden. Andere gruppieren sich um Fußballvereine herum. Aber die größte Gewalt geht wohl von Drogenbanden aus, ganz einfach weil da eben auch das große Geld im Spiel ist, dass diese Kinder, dass diese Jugendlichen sich eben die entsprechenden Waffen, nicht nur Messer, sondern auch Revolver leisten können.

Kassel: Über welche Altersgruppen reden wir denn da?

Zagatta: Da reden wir über Jugendliche ab dem Alter teilweise von zehn Jahren schon. Es gibt sogenannte Gun Runners, so heißt das bei diesen Drogenbanden. Das heißt, da werden ganz besonders Jugendliche, Minderjährige eingesetzt ab dem Alter angeblich schon von sieben Jahren, um Waffen zu transportieren, um Drogentransporte zu machen, ganz einfach weil sie noch nicht strafmündig sind. Und teilweise sind die, die da jetzt wegen Mordes belangt werden, zwischen zehn und 15 Jahre alt.

Kassel: Was ist denn da schiefgelaufen? Denn der Eindruck täuscht doch wohl nicht, dass in London, aber es hat ja auch Fälle in den anderen englischen Städten gegeben, das keine winzig kleine Minderheit mehr ist, sondern dass doch offenbar ein ziemlich relevanter Teil der entsprechenden Jugendlichen betroffen ist von diesem Phänomen.

Zagatta: Experten erklären das einfach mit dem großen Anteil zerbrochener Familien hier in Großbritannien, dass gewalttätige Banden hier die Familien ersetzen. Das ist mittlerweile so, weil laut Statistik jedes vierte Kind in Großbritannien ohne Vater aufwächst. In Problemvierteln wie Hackney zum Beispiel wächst mehr als die Hälfte schwarzer Jugendlicher ohne Vater auf. Das heißt, laut Experten fehlt da auch Autorität, fehlt eine Vorbildfigur.

Und wenn man das soziologisch erklären will, gibt es einen Amerikaner, der hier sehr viel zitiert wird in den Zeitungen, in den Medien, in den letzten Monaten, Charles Murray, der das angeblich vor 15 oder 20 Jahren schon vorausgesagt hat, dass Großbritannien eine ähnliche Entwicklung durchmachen wird, was jetzt wohl eingetreten ist, wie die USA in den 60er Jahren. Er führt das auf eine verhängnisvolle Sozialpolitik zurück, so drückt er sich aus. Es sei die Folge einer wohlgemeinten, aber verhängnisvollen Sozialpolitik, die darauf setzt, den Nachwuchs als Einkommensquelle zu betrachten. Das heißt, dass alleinstehende Mütter, dass Teenagerschwangerschaften finanziell von Staat regelrecht gefördert werden. Man hat doppelt so viele Teenagerschwangerschaften in Großbritannien wie im restlichen Westeuropa, doppelt so viele etwa wie in Deutschland. Und das führt offenbar zu diesen Strukturen.

Kassel: In Deutschland werden die im Vergleich zu Großbritannien allerdings im Moment noch sehr viel harmloseren Formen von Jugendgewalt auch immer in Verbindung gebracht mit dem Bildungssystem. Wie wird das in England diskutiert? Ich nehme doch an, dass wir hier auch über Jugendliche reden, die zum Teil schon seit vielen Jahren gar nicht mehr zur Schule gehen?

Zagatta: Das ist es. Und das ist wohl auch in England ein großes Problem. Hier soll es aber auch laut diesen Statistiken 1,2 Millionen solcher sogenannter NEETs ("Not currently engaged in Employment, Education or Training", Anm. d. Red.) geben. Das sind Jugendliche, die weder in Ausbildung sind noch in der Schule, noch in Arbeit, 1,2 Millionen, die nur auf den Straßen herumhängen. Das Bildungssystem und dann auch, dass man sich um die Jugendlichen kümmert, wenn sie nicht mehr zur Schule gehen, ist hier ein sehr, sehr großes Problem.

Kassel: Wir haben dieses Gespräch begonnen mit der Feststellung, keine besonderen Vorkommnisse am Wochenende. Das gilt ja nur für das, wofür wir uns hier im engeren Sinne unterhalten, im weiteren schon nicht mehr. Am Wochenende ist in London im öffentlichen Nahverkehr - also U-Bahn, Busse und Ähnliches - der Alkohol verboten worden. Das führt noch mal zu einer großen Besäufnisparty. Und davon hört man ja immer wieder, wenn man sich die Internetseiten englischer Tageszeitungen anguckt, dann gibt es teilweise die Nachrichten unter Rubrik "Booze", umgangsprachliches Wort für Alkohol. Welche Rolle spielt denn der Alkohol- und Drogenmissbrauch in dieser Jugendszene?

Zagatta: Auch eine große Rolle, wobei jetzt, in Anführungszeichen, meistens die Auseinandersetzungen, die sich da anschließen, Schlägereien, Streitfälle, wo man auch mal mit dem Messer aufeinander losgeht, in Anführungszeichen, "relativ glimpflich" abgehen. Auch da kommt es hin und wieder zu Morden, aber der Großteil dieser Teenagermorde, dieser "Krieg der Kinder", wie sich die Medien hier ausdrücken, der geht doch auf das Konto organisierter Banden. Da spielt Alkohol wohl auch eine Rolle, da spielen natürlich auch Drogenexzesse eine Rolle, ab wohl nur eine nachgeordnete.

Kassel: Sie haben erwähnt, dass es diesen amerikanischen Experten gibt und wohl auch andere Stimmen, die von einer gut gemeinten, aber völlig falschen Sozialpolitik reden. Wir wird das Ganze denn politisch in Großbritannien diskutiert. Sagen die Tories dann, wir brauchen wieder bessere Familien, und die Gegenseite sagt, wir brauchen mehr Geld für Sozialarbeiter, oder wie wird das zurzeit diskutiert?

Zagatta: Ja, wobei es dann quer durch die Parteien geht. Das sind genau die Vorschläge. Die Tories haben bemängelt oder bemängeln das und wollen das, wenn sie die nächste Wahl gewinnen sollten, auch wieder ändern, dass es beispielsweise hier in Großbritannien überhaupt keine Steuerförderung für Familien gibt, dass Menschen, die heiraten, steuerlich oft schlechter gestellt werden. Wenn sie getrennt leben würden, wenn die Frauen ihre Kinder alleine erziehen, werden sie finanziell besser gestellt. Da will man ansetzen.

Zum anderen wird natürlich diskutiert, ob noch mehr Geld gesteckt werden soll in Sozialprojekte, was eigentlich die Tories wie die Labour-Partei vorhat. Und beide Seiten sind sich langsam auch einig, aber schon seit Jahren, dass man der Polizei wieder mehr Verfügungsgewalt geben will. Beispielsweise hat die Polizei ja in den letzten Jahren gar keine Verdachtskontrollen mehr durchführen dürfen. Das war ihnen aus Gründen politischer Korrektheit verboten, das darf man nun wieder. An den Schulen sollen Metalldetektoren eingeführt werden, und die Justiz soll aufgefordert werden, aber auch das sind Appelle, die wir hier schon seit Jahren kennen, wieder härter durchzugreifen mit ihren Strafen. Das ist die Diskussion, die sich aber irgendwie auch schon seit Monaten, seit Jahren fast im Kreis dreht.

Kassel: Sie haben gesagt, dass es Experten gibt, die sagen, Großbritannien erlebt seit einigen Jahren etwas, was Teile der USA in den 60ern erlebt haben. Wenn in Deutschland die Rede ist von den Vorkommnissen in England, dann wird oft prophezeit, das wird in zwei, drei Jahren bei uns auch so sein. Glauben Sie das?

Zagatta: Das kann ich mir nicht ganz so vorstellen, obwohl wahrscheinlich da Entwicklungen dahingehen. Allerdings gibt es diese politische Correctness, die sich hier ausgebreitet hat, die mittlerweile die Polizei behindert, offensichtlich in anderen Ländern auf dem Kontinent noch nicht.

Und zum anderen spielt hier wohl auch eine ganz große Rolle, was hier diskutiert wird, dass die Polizei angeblich mit Aufgaben beschäftigt ist, sehr viel zu dokumentieren, Statistiken zu erstellen. Das sind Planvorgaben, fast sozialistische Planvorgaben, die die Labour-Partei vor zehn Jahren eingeführt hat. Die Polizei muss Statistiken erstellen und auch führende Polizeibeamte, das ist die Diskussion auch der vergangenen Monate, klagen darüber, dass man endlich davon abrücken müsse und endlich wieder mehr Polizei auf die Straßen bringen soll.

Auch das will die Regierung aufgreifen, da sollen Maßnahmen ergriffen werden. Das wird alles dauern. Aber das sind natürlich auch Zustände jetzt auf dieser Verwaltungsebene, auf Ebene der Polizei, wie sie in Frankreich oder in Deutschland noch nicht herrschen.

Kassel: Die Zeitungen, die englischen, auch die deutschen, schreiben viel von der Angst von Jugendlichen, die ein Küchenmesser mitnehmen, weil sie Angst vor anderen Jugendlichen haben, von Erwachsenen, die auch Angst haben. Gibt es für Sie, wenn Sie in London unterwegs sind, Uhrzeiten und Gegenden, wo Sie sich nicht mehr wohlfühlen aufgrund dieses Problems?

Zagatta: Das schon. Man geht auch, meine Kinder, die in dem Alter sind, die sind 15 und 17, gehen nachts und vor allem am Wochenende abends, wenn sie ausgehen, da in ihren Gruppen in bestimmte Viertel nicht mehr. Nur das ist keine Garantie. Wir wohnen hier in South Kensington zum Beispiel, einem Viertel in der Innenstadt, das als relativ sicher gilt. Auch da ist einer meiner Söhne jetzt erst vor kurzem, vor sechs Wochen, in der Nacht mit einem Messer überfallen worden. Das ist keine Garantie. Aber natürlich ist man da schon vorsichtiger und achtet darauf.
Kassel: Vielen Dank! Martin Zagatta war das, unser Großbritannien-Korrespondent live aus London zur eskalierenden Gewalt unter britischen Jugendlichen. Allein 14 tote Teenager umgebracht von anderen Teenagern gab es seit Beginn des Jahres allein im Großraum London.