Kretschmann und Kuhn "verkörpern das evangelische Pfarrhaus"

Anna-Katharina Hahn im Gespräch mit Joachim Scholl · 23.10.2012
Das schwäbische Bildungsbürgertum habe sich nach der Dekadenz, Machtgier und Selbstherrlichkeit der Ära Mappus für einen Neuanfang entschieden, meint die Stuttgarter Romanautorin Anna-Katharina Hahn – und für zwei grüne Landesvaterfiguren.
Joachim Scholl: "Kürzere Tage" und "Am schwarzen Berg" – so heißen zwei Romane der Stuttgarter Autorin Anna-Katharina Hahn, und die Bücher spielen auch dort, wo sich seit einiger Zeit politisch so viel tut: Stuttgart 21, der erste grüne Ministerpräsident und jetzt seit Sonntag der erste grüne Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt. Da fragt nicht nur die Bild-Zeitung verblüfft: Was ist eigentlich mit Baden-Württemberg los?" Fragen Sie sich das auch manchmal, Frau Hahn?

Anna-Katharina Hahn: Ja, ich denke, der Wechsel, der sich jetzt hier abgespielt hat, war schon lange vorbereitet, und ich muss sagen, ich habe am Sonntag schon mich noch gewundert, ob es klappen könnte. Aber so richtig überrascht war ich nicht, denn die Wurzel dieses Wechsels ist ja in den 80er-Jahren bereits gesät, diese damals friedensbewegten ökologischen Studenten und Schüler, für die CDU wählen das größte Tabu war, das sind heute gut ausgebildete, gut verdienende Stützen der Gesellschaft, und denen ist ihr Grünsein geblieben, und dieses Grünsein – also die Grünen, die hier in Baden-Württemberg jetzt am Ruder sind, die unterscheiden sich aber schon, glaube ich, sehr stark von den anderen Grünen des Landes. Ich denke, das kann man vielleicht nicht unbedingt auf die Bundesebene übertragen.

Scholl: Bleiben wir ruhig bei Baden-Württemberg und in dem Milieu, in dem auch Ihre Bücher spielen, Frau Hahn. Also da treten Menschen auf, so mittleren Alters, die arriviert sind, Kompromisse gemacht haben, noch den einen oder anderen Traum an ein früheres, ja, vielleicht ein bisschen wilderes Leben haben, daran denken sie, wenn sie heimlich auf dem Balkon eine rauchen, im Arzneischränkchen sind dann so Psychopharmaka versteckt, da wirft die Hausfrau eine Pille ein, bevor sie in den Bioladen einkaufen geht … das ist ziemlich böse gezeichnet und gut beobachtet, das sind Figuren, die auch Fritz Kuhn wählen würden, oder?

Hahn: Teilweise. Die Judith, die Sie jetzt aus "Kürzere Tage" gepickt haben, die würde wahrscheinlich überhaupt nicht wählen, aber Emil jetzt, der Lehrer aus dem "Schwarzen Berg", das ist ein alter 68-er, der – wie ich geschrieben habe – auf relativ träumerischen Umwegen an das Amt des Studienrates geraten ist, und sein Ziehsohn, der Peter, der um die 40 ist, das sind schon landestypische Figuren, das sind hochgebildete Aussteiger in der Mitte der Gesellschaft, die auf der Suche nach einem alternativen Leben sind. Und die sind natürlich gespeist von der Bildung und Literaturliebe, in dem Fall auch, die sie in dieser schwäbischen und sehr evangelischen Landschaft auch in sich aufgezogen haben. Aber es sind auch Kippfiguren natürlich, deren Lebensentwürfe jederzeit scheitern können, und denen sind ja auch nicht umsonst als Spiegelfiguren Obdachlose zur Seite gestellt, die zeigen, dass diese bürgerliche Existenz jederzeit kippen kann.

Scholl: Wenn man ihre beiden Bücher gelesen hat, ahnt man trotzdem, glaube ich, ganz gut etwas von diesem besonderen aufgeklärten grün-bürgerlichen Milieu, von dem ja auch immer die Rede war während den Debatten über Stuttgart 21 etwa. Wann ist ihnen das eigentlich aufgefallen, Frau Hahn, dass hier also auch wirklich prächtiger literarischer, komplexer Stoff sozusagen auf der Straße liegt?

Hahn: Also ich musste mich ja mit Stuttgart irgendwie arrangieren, weil ich ja herziehen musste, wieder zurück in die Heimat, und ich habe mich sehr daran gerieben, weil ich die Stadt fluchtartig verlassen habe mit 18. Und dann habe ich erst gemerkt, dass es eben auch mein Quellgrund ist, aus dem meine Geschichten kommen, als ich gesehen habe, hier bin ich jetzt. Und da ich meistens über die Dinge schreibe, die mich umgeben, blieb mir nichts anderes übrig, als dann eben mich auch über Stuttgart, mit Stuttgart auseinanderzusetzen.

Scholl: Sie haben vorhin schon zu Beginn unseres Gespräches so eine kleine blitzsaubere Soziologie des Grünen und wie sie sich entwickelt haben, entworfen. Das möchte ich jetzt gern noch mal ein bisschen vertiefen, das ging so ein bisschen rasch. Sie sind 1970 geboren, Frau Hahn in der Nähe von Stuttgart auch, habe ich gelesen … das ist ein kleiner Ort so, liegt in der Nähe von Stuttgart, ne?

Hahn: Ja, Ruit ist sozusagen ein Krautacker, auf dem eine Geburtsklinik steht, aber ich bin aufgewachsen und habe auch mein Abitur mitten in Stuttgart gemacht.

Scholl: Hätten Sie denn als junge Frau diesen Politik- und Mentalitätswechsel für möglich gehalten in einem Land, das so beinhart und eigentlich zementiert konservativ schien, wo Fleiß, Disziplin, Ordnung als Tugend auch jedem Heranwachsenden die Jugend verleidet haben, wenn er nicht so drauf ist – Sie haben gerade vorhin gesagt, ich bin fluchtartig ab aus Stuttgart. War das so bei Ihnen?

Hahn: Das Klischee wäre ja nur noch gewesen, dass ich nach Berlin gegangen wäre, ich bin aber nach Hamburg gegangen, und ich muss sagen, das konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass hier alles mal so grün wird. Aber wenn man sich diese Grünen mal anschaut, die sind ja in ihrem Innersten, die baden-württembergischen Grünen, der CDU ähnlicher, als sie zugeben möchten. Die sind ungeheuer wertkonservativ, und krakeelende und in Tränen badende Fundis könnten hier nicht reüssieren. Ich glaube, man darf nicht vergessen, wie stark dieses Land von seiner Konfession her evangelisch geprägt ist, wie sie es schon gesagt haben, evangelisch-pietistisch, und der Herr Kretschmann ebenso wie der Kuhn verkörpern ja in ihrem ganzen Habitus, in ihrer Sprechweise, in ihrem Hintergrund, in diesem Kanzelton, den sie haben, wirklich das evangelische Pfarrhaus.

Das sind Landesvaterfiguren, denen die Bürger jetzt ihr Vertrauen schenken, und das wäre alles nicht passiert, wenn es nicht eine veritable Glaubenskrise der CDU gegeben hätte, die sich schon lange angebahnt hat. Diese seit fast über 40 Jahren gewachsenen Strukturen, die sind ja nahezu absolutistisch. Das ist ja schon mit einer Erbmonarchie vergleichbar – Mappus zum Beispiel, Mappus, Oettinger und all diese Dekadenz, Machtgier, Selbstherrlichkeit, Verstrickung in Lobbyismus, dazu noch Stuttgart 21, da kommen dann Vertrauens- und Pastorenfiguren wie Kretschmann und Kuhn, um den Bürger wieder neu zu beleben, und der schenkt ihnen sein Vertrauen, und man kann gespannt sein auf die weitere Entwicklung.

Scholl: Neue grüne Bürgerlichkeit in Baden-Württemberg – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der Schriftstellerin Anna-Katharina Hahn aus Stuttgart. Das war jetzt aber wirklich ein Parforce-Ritt, Frau Hahn, und ich höre Ihnen doch ein bisschen Empörung heraus, dass Sie sagen, eigentlich diese Grünen, für die Sie vielleicht 1980 oder 1985 vielleicht mit 15, 16 auf die Straße gegangen sind, haben sich eigentlich in grün angemalte schwarze Spießer verwandelt?

Hahn: Nein, so sehr würde ich das nicht sehen. Also ich möchte auch sagen, ich bin gespannt darauf, ob sie diese Versprechen auch halten können, und ich sehe schon auch den Vorteil, das sind ja Vertrauensfiguren. Ich frage mich nur, wie stark die Handlungsspielräume, wie weit diese Handlungsspielräume, die diese Leute jetzt haben, auch sind, denn sie sind ja, sie gehen ja hinein in Strukturen, die über 40 Jahre aufgebaut worden sind, auch in Verfilzungen, möchte ich mal sagen, und wie weit es ihnen gelingt, diese aufzuschneiden und aufzubrechen. Das wird sich zeigen, und die stehen ja auch vor krisenhaften Problemen, wenn sie jetzt den Bahnhof bauen müssen, was sie sich wahrscheinlich auch nicht haben vorstellen können, den Bahnhof umbauen zu müssen, und jetzt eben wirklich in das Reale hineinzugehen.

Scholl: Ich glaube, dieses Erbe, das wird Fritz Kuhn noch sauer aufstoßen, aber lassen Sie uns noch mal zurückkommen, Frau Hahn, auf das, was Sie gerade gesagt haben. Sie haben die Namen jetzt erwähnt, also Oettinger und Mappus – ich meine, das sind die zwei letzten Ministerpräsidenten, die eine besonders unselige Rolle gespielt haben. Nun sagt man immer: Ohne Stuttgart 21 und jetzt auch ohne diese parteipolitische Verfilzung, wie sie in Baden-Württemberg anscheinend so typisch und dann so desaströs war, hätte es diesen Umschwung nicht gegeben. Sie sind, glaube ich, anderer Meinung, Sie sagen, das hat sich schon länger vorbereitet.

Hahn: Ja, ich denke einfach, dass es für eine Demokratie nicht gut ist, wenn es so eine Art Erbmonarchen gibt, und dass die Bürger einfach sich für einen Neuanfang entschieden haben. Wenn Sie sich anschauen, dass am Wochenende noch in der "Stuttgarter Zeitung" eine riesengroße Anzeige der Unterstützer von Fritz Kuhn – und da finden sich neben den üblichen Verdächtigen – Lehrern, Professoren und kreative Berufe, Schauspieler, Künstler, – auch Ärzte, Unternehmer und Architekten. Das ist dieses ganze schwäbische Bildungsbürgertum, was sich jetzt einfach entschieden hat, einen Neuanfang zu wagen, und vielleicht ist das Mäntelchen grün, aber ich glaube, die Tugenden, die Sie vorhin auch aufgezählt haben, die vielleicht ein wenig abschreckend sind für den, der nicht damit aufgewachsen ist, die sind unter diesem Mäntelchen genau die gleichen, und darum ist der Schritt auch nicht so revolutionär.

Scholl: Wie leiden Sie denn als Wieder-Stuttgarterin, Anna-Katharina Hahn, unter der Kehrwoche?

Hahn: Also ich muss sagen, meine härteste Kehrwoche habe ich in Hamburg-Bahrenfeld im Arbeiterviertel zwischen Margarine- und Gurkenfabrik unter den Augen von ganz kleinbürgerlichen und Arbeiterfrauen machen müssen, und das hat sich inzwischen auch hier alles etwas geändert.

Scholl: Wird sich denn Anna-Katharina Hahn als Schriftstellerin neu auch wieder vielleicht in einem neuen Buch dieser neuen Stuttgarter Entwicklung zuwenden? Es gibt ja tolles neues Personal, oder?

Hahn: Ja, ich denke mal, Stuttgart wird mich nicht loslassen, und diese Landschaft ist für mich reizvoll, um mich in sie einzuschreiben, aber ich würde gerne im nächsten Buch auch ein bisschen weiter weg gehen. Aber ich glaube, meine Wurzeln und mein Quellgrund sind schon hier.

Scholl: Oder nach Berlin kommen, wie so viele Schwaben.

Hahn: Lieber nicht! Die Distanz hat manchmal ihre Vorteile und der Blick von Weitem.

Scholl: Das neue grüne Stuttgart – wir haben dazu die Schriftstellerin Anna-Katharina Hahn gehört. Ihre Romane "Kürzere Tage" und "Am schwarzen Berg" spielen in Stuttgart, sind im Suhrkamp Verlag erschienen. Frau Hahn, danke schön für das Gespräch.

Hahn: Danke, Herr Scholl, auf Wiederhören.

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Anna-Katharina Hahn
Anna-Katharina Hahn© dpa / picture alliance / Arno Burgi
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