Krebs, Belcanto und Kanonen

Von Stefan Keim · 31.12.2010
"So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein." Wenn jemand ein Buch mit so einem Titel und dazu passendem Inhalt schreibt, berührt es besonders, wenn er früh sterben muss. Der Tod Christoph Schlingensiefs war eines der bedeutendsten Ereignisse des Jahres 2010.
Schlingensief: "Bin ich noch autonom? Oder bin ich nur in der Hand von diesem Krebs oder einer anderen Krankheit oder in den Händen der Ärzte?"

Christoph Schlingensief zeigte, wie der Krebs ihn langsam auffraß. Er stellte sich auf die Bühne, offen, schonungslos, ließ Aufzeichnungen laufen, in denen er vor Todesangst wimmerte. Dann haderte er mit Gott, entwarf seine eigene Religion, suchte nach Reinigung und Heilung. Der kranke Mensch wurde zur Kunstfigur, Schlingensief machte sich zum Stellvertreter der Leidenden. Manche warfen ihm Hybris vor, die meisten berührter er mit seinen rauschhaften Musik- und Bilderorgien zutiefst.

Schlingensief: "Man merkt, dass es nicht um meine Leidensgeschichte geht, die ich hier als Leidensmann austrage, sondern es ist ne Öffnung. Und auch das Tabu, das Aussprechen der Ängste und auch diese Angst, nicht mehr an der Gesellschaft teilnehmen zu können, ausgestoßen – in Anführungszeichen – zu sein, das kommt da rüber. Und deshalb merke ich auch, wie gerade dieses Thema bei den Leuten ankommt und nicht gesehen wird als eine rein private Ausbreitung. Das wäre furchtbar."

Lilienthal: "Samstag ist die Schlingensief-Republik gestorben."

Der Theatermacher Matthias Lilienthal war einer der engsten Freunde Schlingensiefs.

Lilienthal: "Ich musste in den letzten Tagen so 'n bisschen dran mich erinnern. Als ich jung war, starb dann irgendwann Fassbinder. Und der Tod von Christoph ist ein ähnlicher Einschnitt."

Einen tiefen Einschnitt erlebte auch der französische Film. Gleich am Anfang des Jahres starb Eric Rohmer, der Meister leiser, feiner Liebesgeschichten. Dann folgten Alain Corneau, der elegante Krimis drehte, und Claude Chabrol, der scharfe Analytiker. Er sezierte das französische Bürgertum und zeigte die Abgründe hinter den glatten Fassaden der Mächtigen.

Chabrol: "Es geht mir nicht darum, den Zuschauer zu irritieren, sondern darum, ihn zu stören - es so zu machen, dass er das, was er für die Wahrheit hält, infrage stellt. Er soll sich seiner selbst nicht zu sicher sein."

Fast möchte man Werner Schroeter in die Ahnenreihe des französischen Kinos einreihen. Denn der Film- und Theaterregisseur drehte zuletzt fast nur noch in Frankreich. Von deutschen Produzenten bekam der eigenwillige Ästhet, der die Oper und die großen Frauenfiguren liebte, am Ende kein Geld mehr. Auch Hollywood hat den Tod großer Regisseure zu betrauern: Arthur Penn, den Schöpfer des Gangstermelodrams "Bonnie und Clyde" und den Komödienspezialisten Blake Edwards.

Anneliese Rothenberger: "Ja, ein Traum, schön und mild" (Musik)

Anneliese Rothenberger, ein Soufflé von einem Sopran, leicht und lieblich. Das Fernsehpublikum der 60er- und 70er-Jahre liebte es, wenn sie sich als Moderatorin die Ehre gab und in bunten Kulissen Operettenausschnitte servierte. Dabei hatte sie auch große Partien von Mozart und Richard Strauß drauf. Die wohlige Wärme einer echten Volksschauspielerin verströmte die Hamburgerin Heidi Kabel, die 2010 endgültig die Bühne verließ wie ihr ostdeutsches Pendant Helga Goering. "Rentner haben niemals Zeit" hieß einer ihrer größten Fernseherfolge.

Helga Goering: "Ist was Feierliches. Sollteste eigentlich wissen. – Und das ganze Blech soll ich transportieren? – Ich glaube, unsere Serien waren aus dem Leben. Die Leute sollten sagen: Genau wie bei uns zu Hause."

Die Literatur verlor einige große Erzähler. Der Portugiese José Saramago führte seine Leser oft in surreale, fantastische Welten und war ein politischer Querdenker. Ein sehr breites Schaffen hinterließ der Niederländer Harry Mulisch, Romane über die Zeit des Nationalsozialismus, journalistische Texte, Gedichte und Opernlibretti.

La Stupenda – die Wundebare – nannten ihre Fans die Sopranistin Joan Sutherland. Sie war eine der letzten großen Belcantosängerinnen und beherrschte diese genau austarierte Mischung aus Eleganz und Kraft, aus purer Klangsinnlichkeit und kluger Stimmführung. Nicht minder schmerzt die Opernfans der Verlust des großen italienischen Basses Cesare Siepi. Mit seinen Inszenierungen in Leipzig, Dresden und Berlin wurde Joachim Herz zu einem prägenden Musiktheaterregisseur des 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel für eine traurige, trotz großer Anlagen misslungenen Karriere war der Tenor Peter Hofmann, erst Wagnerheld in Bayreuth, später Winnetou auf der Freilichtbühne.

Gisela Trowe: "Mein Mann liebte Spiele. Und wenn ich die Zeilen richtig verstehe, müssen Sie mitspielen. Sonst werden Sie Ihr Erbe niemals antreten können (lacht)."

Wie viele Altstars des deutschen Theaters hat Gisela Trowe in ihren letzten Jahren viele Hörspiele gesprochen, auch Krimis und Gruselgeschichten. In der Nachkriegszeit spielte sie Hauptrollen in bedeutenden DEFA-Filmen wie "Affäre Blum" oder "Straßenbekanntschaft". Zu dieser Zeit setzte sich in New York die aus Paris stammende Bildhauerin Louise Bourgeois in der Kunstszene durch. Sie starb 2010 ebenso wie die Fotografin Sibylle Bergemann und der Maler Sigmar Polke.

Aus "Die nackte Kanone": "Ihr Haar hatte die goldene Färbung alter Gemälde. Und sie war kurvenreicher als Serpentinen. Und ihre Beine waren von der Sorte, die einem so glatt unter die Zunge geht. Sie schickte mir einen Blick, den ich heiß in meiner Gesäßtasche fühlen konnte."

Niemand konnte den Tonfall amerikanischer Hardboiled-Detektive imitieren und dabei so hinreißend bescheuert aussehen wie Leslie Nielsen. Als ernsthafter Schauspieler war er Mittelmaß, als Slapstick-Komiker einsame Spitze, nicht nur in den drei "Nackte Kanone"-Filmen. In seinen letzten Jahren interessierte sich Dennis Hopper, der "Easy Rider" und Bösewicht vom Dienst, mehr fürs Malen als für die Schauspielerei. Tony Curtis hingegen steppte, sang und spielte noch mit Ende 70 jeden Abend in der Bühnenversion seines größten Kinohits "Some like it hot", "Manche mögen's heiß", in dem er sich mit Filmpartner Jack Lemmon als Frauen verkleidet in eine Mädchenband schleicht.

Aus "Some like it hot": "What are you afraid of? Nobody is asking you having a baby! ... Good girl, Geraldine!"

Tony Curtis war nicht der wandlungsfähigste Schauspieler, aber eine unglaublich vitale Erscheinung - wie Christoph Schlingensief, dessen Kampf gegen den Krebs zu einer Feier des Lebens wurde.

Schlingensief: "Ich hab sehr viel im Leben gesucht. Und das Leben ist, finde ich, die größte Provokation. Und das Überleben macht deshalb besonders viel Freude."
Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago bei einer Buchpräsentation im brasilianischen Sao Paulo
Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago bei einer Buchpräsentation im brasilianischen Sao Paulo© AP
Tony Curtis bei der 16. Internationalen Buchmesse in Budapest im April 2009
Tony Curtis bei der 16. Internationalen Buchmesse in Budapest im April 2009© AP