"Die Kunst war der soziale Klebstoff"
Seit mindestens 40.000 Jahren gibt es figürliche Kunst, sagt der Archäologe Nicholas Conard. Die Internationale Senkenberg-Konferenz in Tübingen beschäftigt sich heute damit, dass Kunst und Kreativität zum Menschsein seit der Steinzeit dazu gehören.
Kunst gibt es schon viel länger, als man so glaubt. "Seit mindestens 40.000 Jahren gibt es figürliche Kunst, schon zuvor gibt es abstrakte Darstellungen", sagte der Archäologe Nicholas Conard im Deutschlandfunk Kultur. Er wurde bekannt, nach dem er die weltweit älteste Kunst in den Höhlen der Schwäbischen Alb, die "Venus von Schelklingen" entdeckte. Die Internationale Senkenberg-Konferenz in Tübingen beschäftigt sich in diesen Tagen bei einer Konferenz mit der Frage: "Kunst aus der Steinzeit und was wir aus ihr lernen können".
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: "Kunst aus der Steinzeit und was wir aus ihr lernen können". Das klingt jetzt nicht nach einem Thema, das man so morgens zwischen Aufstehen und Frühstücksbrot verdauen kann. Es ist aber höchst interessant, auch für Sie jetzt, ganz bestimmt. Die Internationale Senkenberg-Konferenz in Tübingen, die beschäftigt sich nämlich von heute an damit, in einer Konferenz.
Und einer der berühmtesten Archäologen, Nicholas Conard, der hält dort heute den Abendvortrag. Conard ist Direktor der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartär-Ökologie am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen – hab ich geübt –, und er ist bekannt geworden durch die Entdeckung der weltweit ältesten Kunst in den Höhlen der Schwäbischen Alb, die "Venus von Schelklingen" unter anderem. Mit ihm habe ich vor der Sendung gesprochen. "Kunst aus der Steinzeit, und was wir aus ihr lernen können". Herr Conard, was können wir denn lernen?
Nicholas Conard: Ich denke, ein entscheidender Punkt zumindest für die Allgemeinheit ist, dass die Kunst viel weiter zurückgeht, als viele Leute annehmen. Seit mindestens 40.000 Jahren gibt es figürliche Kunst, schon zuvor gibt es abstrakte Darstellungen. Und in dieser Tagung setzen wir uns damit auseinander, und ein Leitmotiv ist sicherlich, dass Kunst und Kreativität eine Grundeigenschaft von Homo sapiens sind, von unserer Art von Menschen. Und vielleicht ein letzter Hauptpunkt ist: Unmittelbar nachdem Kunst, Musik und gewisse andere, kreative, symbolische Kommunikationsformen entstanden sind, hat unsere Menschenart die ganze Welt erobert, was hochspannend ist. Während es zuvor immer mehrere Arten von Menschen gegeben hat.
Erste Kunst und Musikinstrumente
von Billerbeck: Das heißt, Kunst war die Voraussetzung für die Eroberung der Welt?
Conard: Sagen wir so, das wäre ein bisschen vereinfacht dargestellt, aber zumindest ist es gleichzeitig dokumentiert. Natürlich, die Ursachen sind immer eine etwas komplexere Angelegenheit. Aus meiner Sicht könnte man vielleicht sagen, dass die Kunst der soziale Klebstoff war, was ermöglicht hat, dass größere soziale Einheiten zusammen kooperieren können, sich miteinander verständigen können.
Und es ist auf jeden Fall empirisch nachgewiesen, dass wir schlagartig vor ungefähr 40.000 Jahren die erste figürliche Kunst haben, die ersten Musikinstrumente haben, die ersten eindeutigen Belege für Religion im Sinne von in diesem Fall Mischwesen, Sachen, die in der Realität nicht existieren, die aber für Menschen in diesem Fall, aus Marmor und Elfenbein oft geschnitzt werden, und vieles mehr. Diese Entwicklungen sind für unsere Verhältnisse relativ schlagartig entstanden, und heutzutage finden wir diese Art von Kreativitäten weltweit verbreitet unter allen Menschen. Bei anderen Menschenarten zuvor haben wir so was nicht.
von Billerbeck: Im Februar dieses Jahres ist eine Studie veröffentlicht worden vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, und die geht davon aus, dass die Kunst der Neandertaler noch älter sei als bisher gedacht, und erinnert dann an die spanische Höhle Maltravieso, wo man rötliche Schattenrisse von Händen gefunden hat, die mindestens 66.000 Jahre alt seien und die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vom Homo sapiens stammen, sondern eben vom Neandertaler. Wie bewerten Sie diese Funde?
Conard: Zuerst mal, ich habe über Neandertaler promoviert und habe sehr viele Neandertaler-Fundplätze ausgegraben, und wäre überglücklich, wenn Neandertaler tatsächlich Kunst produziert hätten.
Offene Fragen zur Neandertalerkunst
von Billerbeck: Also, da höre ich schon die Skepsis.
Conard: Sagen wir so, ich schließe es nicht aus. Ich habe Leute im eigenen Institut, die sagen, ja, unbedingt, das muss so sein. Ich habe andere, die sagen, das kommt überhaupt nicht in Frage. Und ich finde, wenn man in der Wissenschaft findet, was man sucht und was man eifrig sucht seit Jahrzehnten, da soll man dann vielleicht ein bisschen skeptisch sein. Wenn man findet, was man nicht erwartet, dann neige ich dazu, das was eher zu glauben. Aber wir warten ab.
In der Archäologie, wenn etwas stichhaltig ist, dann findet man immer mehr Belege dafür. Ich könnte viele Beispiele aus meiner eigenen Arbeit erwähnen, nur als Beispiel Musikinstrumente. Bei den ersten Musikinstrumente sagt man, ja, interessant, könnte sein, aber jetzt haben wir drei Fundplätze, die Musikinstrumente aus dieser Zeit produziert haben, und vier unterschiedliche Musikinstrumentarten. Und damit ist die Frage klar. Und wenn das stimmt mit Neandertalerkunst, werden wir das auch an anderen Orten nachweisen können. Und dann würde ich ohne Wenn und Aber sagen, wunderbar. Und ich werde mich auch für die Neandertaler freuen.
von Billerbeck: Das heißt, Sie warnen Archäologen davor, dass der Wunsch da der Vater des Gedankens ist?
Conard: Ist das nicht ein Stück weit überhaupt im Leben der Fall, dass man vielleicht ein bisschen skeptisch sein soll, wenn es um die Erfüllung von Träumen geht? Ich versuche zumindest, meinen Erwartungshorizont sehr gering zu halten.
von Billerbeck: Sie haben es ja erwähnt, dieses Jahreszahl. Vor etwa 40.000 Jahren sind die ersten bisher bekannten ältesten Kunstobjekte moderner Menschen gefunden worden, in den Höhlen des Alb-Donau-Kreises. Das sind die Fundorte. Und vor allem die von Ihnen entdeckte berühmte Venus von Schelklingen ist da gemeint. Ändert sich denn durch diesen Fund aus Spanien, den ich erwähnt habe, also in dieser Höhle Maltravieso etwas an Ihren Funden, an der Wahrnehmung dieser Funde?
Conard: Ich denke, überhaupt nicht. Man kann das vergleichen, mit was man will. Jetzt nehmen wir an, die deutsche Weltmeisterschaft im Fußball. Man hat letztes Mal gewonnen. Wenn man dieses Jahr nicht gewinnt, wird der Sieg letztes Mal nicht in Frage gestellt. Das ist einfach – die Dinge sind so, wie sie sind. Ich freue mich, wenn es Neandertaler-Kunst geben würde. Ich finde die Argumente noch nicht hundertprozentig überzeugend. Aber ich betrachte es überhaupt nicht aus diesem Blickwinkel.
Ob meine Funde wichtig sind oder unwichtig sind, ist mir egal. Ich bin Wissenschaftler, ich grabe aus, ich publiziere, was ich finde. Und über lange Zeiträume wird man sehen, welche Ergebnisse Hand und Fuß haben, und zumindest, das ist das Schöne hier auf der Alb, viele Fundplätze und Funde werden seit Jahrzehnten untersucht, eigentlich seit den 1860er-Jahren. Das führt dazu, dass wir sehr gute Quellen haben, und die Quellen gehen auf viele Leute zurück. Ob meine Funde besonders großartig sind, ist eigentlich nicht die Frage.
Bedeutung der Schwäbischen Alb
von Billerbeck: Das heißt, die Kunst wurde also doch in der Schwäbischen Alb geboren?
Conard: Ich würde auf jeden Fall sagen, die besten frühen Belege dafür, für die figürliche Kunst, für die Musik auf jeden Fall. Die besten Belege für so was und auch eine ganze Reihe anderer Entwicklungen haben wir in unserer Region. Das hängt sicherlich mit der guten Erhaltung zusammen, die wir haben, mit einer sehr prächtigen Forschungsgeschichte hier. Wir haben auch letztes Jahr Weltkulturerbestatus bekommen. Ich denke, das spricht für sich.
von Billerbeck: Die Venus von Schelklingen, die Sie entdeckt haben – beschreiben Sie uns doch mal, woraus besteht die, wie sieht die aus? Was ist daran so faszinierend?
Conard: Es ist eine Frau ohne ausgeformte Beine, ohne Kopf, dafür eine Öse oben auf den Schultern. Sehr große Brüste, Hände, die auf dem Bauch ruhen unterhalb der Brüste. Es hat wirklich eine, finde ich, sehr schöne Darstellung. Es ist vielleicht nicht so ästhetisch gelungen wie das Vogelherdpferd oder Mammut oder ein paar andere Stücke. Aber es ist extrem ausdrucksvoll und, finde ich, einfach fantastisch.
von Billerbeck: Diese Orte, an denen sie die gefunden haben, also die Höhlen im Hohenfels oder im Geißenklösterle, sind die so was wie ein Brennglas, durch das hindurch wir unser Leben vor vielen tausend Jahren sehen können?
Conard: Ja, natürlich, es gibt diese ganz besonderen Orte, wo wir sehr intensiv geforscht haben. Daher wissen wir sehr viel über die Menschen, über deren Technologie, deren Subsistenz und vieles mehr. Das Schöne ist, finde ich, in der Archäologie, wir sind das einzige Fach, das konkrete, handfeste Ergebnisse liefert.
Aber aus meiner Sicht – ich bin vielleicht leicht befangen – würde ich sagen, wir sollten viel mehr in dieser Richtung investieren, und ich würde argumentieren, dass wenn wir das machen würden, würden wir auch unser Wissen über die Vergangenheit nach oben bringen und vielleicht ein runderes Bild von unserer Auseinandersetzung mit der Frage, was ist der Mensch an sich, wo kommen wir her? – wir wissen, Gläubigkeit geht stark zurück. Das heißt, die Frage, was ist der Mensch, wird immer mehr als wissenschaftliche Frage definiert. Und wir sind auch das Fach, das da handfeste Antworten liefern kann. Nichts gegen Religion, das ist Glaubenssache. Wir reden über Wissen und wissenschaftliche Fragen.
von Billerbeck: Der Archäologe Nicholas Conard von der Universität Tübingen, der die weltweit älteste Kunst in den Höhlen der Schwäbischen Alb gefunden hat beziehungsweise die bisher ältesten Belege dafür. "Kunst aus der Steinzeit und was wir aus ihr lernen können", darum geht es heute mit ihm bei einer Tagung in Tübingen. Und im Herbst, ab 21.09. genau, wird in Berlin in einer Ausstellung auch Conards Venus von Schelklingen zu sehen sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.