Kreative Kraft

Für Lewis Hyde ist Kreativität die urtypische Gabe, die den Menschen zum Menschen macht. Hyde erläutert in seinem Buch" Die Gabe" anhand von Beispiele aus den Bereichen Anthropologie, Literatur, Wirtschaft und Psychologie, wie Kreativität die Welt bereichert.
Was unterscheidet Kunstwerke von Waren? Warum geht künstlerische Kreativität über Sachkompetenz hinaus? Inwiefern unterliegt das schöpferische Gewerbe anderen Gesetzen als der Markt? Das sind bekannte Fragestellungen – ungewöhnlich ist, wie der amerikanische Lyriker und Kulturkritiker Lewis Hyde mit ihnen umgeht. Er entwirft in "Die Gabe. Wie Kreativität die Welt bereichert" eine aus Anthropologie und Literatur abgeleitete "Theorie der Gabe". Laut Hyde existieren Kunstwerke in "zwei Welten" – Marktwirtschaft und Gabenökonomie. In der Gabenökonomie sind Talent und Inspiration maßgeblich, Kunst zirkuliert als "Geschenk".

Mit den Dichtern Walt Whitman und Ezra Pound ruft Hyde zwei "Kronzeugen der Gabenästhetik" auf. Die Gabe, erstmals 1983 erschienen, nun frisch überarbeitet, hat den Charme des Unzeitgemäßen. Wer klare Ergebnisse abgreifen will, wird mit dem Buch eher schlecht, wer gern in Gedankengängen verweilt, recht gut bedient sein.

Lewis Hyde erwähnt im Nachwort die "unvorhersehbaren Rhythmen der schöpferischen Arbeit" – und man kann das als ironische Selbstinterpretation lesen. Hydes Buch heißt genauso wie Marcel Mauss’ anthropologischer Klassiker "Die Gabe" von 1925 und wendet dessen Untersuchungen zum Schenken auf die Sphäre der Kunst an (behauptet solches jedenfalls).

Überwältigende Stringenz war nicht das höchste Ziel des Autors. Um zu zeigen, dass Gabentausch kein Handel auf Gewinn ist und nicht auf Konsum zielt, zieht Hyde schottische Märchen, Zeremonien von Südsee-Eingeborenen, den indianischen "Potlatsch", Karl Marx’ Kapital, das Alte Testament, den Koran und vieles mehr heran. Stets geht es darum, das Geschenk vom Geschäft zu unterscheiden, und zu verstehen, welche Bindungen das "Geben" im Unterschied zum Verkaufen zwischen den Menschen schafft:

"Nähe entsteht, wenn ein Geschenk uns anspricht, und was uns über die Gabe selbst hinaus bewegt, ist die Verheißung (oder Bekräftigung) von Transformation, Freundschaft und Liebe."

Eine vollkommene, durch Austausch lebendig gehaltene Gabe gleicht laut Hyde dem Blutkreislauf im menschlichen Körper.

Hat das mit moderner Kunst und Kreativität zu tun? Im streng systematischen Sinne wenig. Lewis Hyde präsentiert seine disparaten Funde, um eine – vor allem spirituelle – Sphäre sichtbar zu machen, die dem Gewinn maximierenden homo oeconomicus verschlossen bleibt. Die kapitalismuskritische Schlagrichtung ist subtil und unideologisch, aber ein spektakuläres Beispiel bietet Hyde immerhin: US-Autobauer Ford hat in den 70er Jahren seinem Modell Pinto ein Billigteil zum Feuerschutz vorenthalten und den Verbrennungstod mehrerer hundert Menschen bewusst in Kauf genommen, weil der absehbare Schadensersatz niedriger lag als die Umbaukosten.

Im Übrigen entdeckt Hyde Zusammenhänge zwischen der Ökonomie des Gabentauschs und dem Anarchismus. Er fasst die Gabe als anarchischen Besitz auf, "da sowohl der Anarchismus als auch der Gabentausch die Gemeinschaft nicht in Zwang und Unterdrückung wurzeln sehen, sondern in der Hingabe."

Kunst im Hydeschen Verständnis nun ist eine Gabe, die der Künstler selbst in Form von Gnade/Inspiration empfängt und durch seine Werke freigiebig ans Publikum verschenkt. Der gesamte zweite Teil von "Die Gabe" dient der Intensivlektüre der Gedichte Walt Whitmans und Ezra Pounds samt thematischen Anreicherungen und Abschweifungen, die zeigen, dass Hyde kein disziplinierter Wissenschaftler, sondern ein latent schwärmerischer Querkopf ist. Am Ende liegt der Lektüregewinn weniger in der Beweisführung als vielmehr im Suggestiven und Auratischen – was in einem solchen Buch akzeptabel ist.

In Zeiten, in denen der Markt für moderne Kunst oft nach Börsengesetzen funktioniert, hat "Die Gabe" gleichwohl etwas Anachronistisches. Daran ändern das überarbeitete Resümee und das auf Aktualisierung bedachte Nachwort wenig. Aufs Ganze gesehen steht Hyde auf Versöhnung: "Der Markt ist ein Ausfluss des Logos, und dieser gehört ebenso zum menschlichen Geist wie der eros" – dem Eros aber gehört die Kunst. Margaret Atwood nennt Hydes Buch "ein Meisterwerk".

Rezensiert von Arno Orzessek

Lewis Hyde: Die Gabe. Wie Kreativität die Welt bereichert
Übersetzt von Hans Günter Holl
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008
413 Seiten. 22,90 Euro