Kraushaar: Es gab einen "starken Verdacht"

Wolfgang Kraushaar im Gespräch mit Holger Hettinger · 02.09.2009
Aus Sicht des Politologen Wolfgang Kraushaar ist es bis heute eine "offene Frage", warum keine Anklage gegen das RAF-Mitglied Verena Becker im Zusammenhang mit dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback erhoben worden ist.
Holger Hettinger: Es waren Schüsse, die Deutschland veränderten und zutiefst erschütterten. Am 7. April 1977 wurde der damalige Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter von Protagonisten der RAF erschossen. Drei RAF-Terroristen wurden für diese Morde zu lebenslanger Haft verurteilt, und doch bleiben Fragen offen. Wer hat das Motorrad gefahren, von dem aus Buback ermordet wurde, und wer hat geschossen? Die Spekulationen rund um die Urheber der Tat haben neue Nahrung erhalten, als Michael Buback, der Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, bei einer umfassenden Spurensuche die Mittäterschaft der Terroristin Verena Becker in die Diskussion einbrachte. War sie die zierliche Person, die Zeugen der Tat auf dem Sozius des Motorrads gesehen haben? Warum ist dieser Spur nicht nachgegangen worden? Und kann es sein, dass der Verfassungsschutz darauf hingewirkt hat, dass die Rolle von Verena Becker nicht weiter untersucht wurde? Eine Angelegenheit, die – so scheint’s – mehr Fragen als Antworten kennt. Wir wollen uns den Fragen und den denkbaren Antworten in diesem Fall nähern im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben über 1968, die Studentenbewegung und die RAF. Er ist jetzt in einem Studio in Hamburg. Schönen guten Tag!

Wolfgang Kraushaar: Schönen guten Tag!

Hettinger: Herr Kraushaar, lassen Sie uns zunächst klären, warum genau die Spur Verena Becker in diesen Tagen wieder so bedeutend geworden ist. Da war zu lesen von Briefumschlägen von Bekennerschreiben, auf denen DNA-Spuren zu finden gewesen seien, Ergebnisse einer Hausdurchsuchung, beschlagnahmte Computer. Woraus genau leitet sich die Belastung von Verena Becker her?

Kraushaar: Das ist nicht ganz klar, denn das, was Sie eben gerade zitiert haben, sind ja Teilergebnisse eines längeren Ermittlungsprozesses, der entweder Ende letzten Jahres oder zu Beginn diesen Jahres von der Bundesanwaltschaft wieder aufgenommen worden ist. Und man muss sich im Grunde genommen die Frage stellen, woher diese Art von Kurswechsel seitens der Bundesanwaltschaft rührt. Und die Gründe dafür sind nicht klar, aber möglicherweise hängt es damit zusammen, dass ja der öffentliche Druck durch die Publikation von Michael Buback doch erheblich geworden ist und gewisser Weise die Bundesanwaltschaft den Schwarzen Peter bei dieser Diskussion eine Zeit lang hatte, und es kann sein, dass es auch damit zusammenhängt.

Hettinger: Sie selbst haben den Sohn von Siegfried Buback, Michael Buback, und den damaligen BKA-Chef, Horst Herold, getroffen. Haben Sie etwas erfahren über die Verdachtsmomente, die die Bundesanwaltschaft schon 1977 im Zusammenhang des Buback-Mordes hatte?

Kraushaar: Ja, also ich habe Herrn Buback kennengelernt Ende 2007 auf einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Bad Boll und war beeindruckt von dem, was er vorgestellt hatte – in der Essenz ging es damals bereits um das, was er in seinem Buch veröffentlicht hat –, und habe anschließend Kontakt mit Herrn Herold aufgenommen, den ich von einem Interview her kannte. Und Herr Herold hatte mir dann zu meiner Überraschung deutlich gemacht, dass auch für ihn es einen dringenden Tatverdacht gegeben habe, 1977, der sich gegen Günter Sonnenberg und Verena Becker gerichtet hat, die am 3. Mai 1977, also nicht einmal einen Monat nach der Ausführung des Attentats auf Generalbundesanwalt Buback verhaftet worden waren. Und warum es damals nie zu einer Anklageerhebung gekommen ist, weder gegen Herrn Sonnenberg in diesem Fall noch gegen Frau Becker, das ist für Herrn Herold bis auf den heutigen Tag offenbar ein Rätsel geblieben. Und er sagte mir am Ende des Gesprächs, dass er den Eindruck habe, dass sich Herr Buback, also Michael Buback, auf der richtigen Spur befinden würde. Und bei einem Treffen, das wir dann gemeinsam in München hatten, im Januar 2008, brachte er ein Dokument mit, aus dem erkennbar war – das war ein Tableau des Bundeskriminalamtes –, dass die Fälle Mordfall Buback und die Festnahme Sonnenberg/Becker als eine Einheit verhandelt worden sind. Auf diesem Tableau waren lediglich Indizien, also Sachmittel und Beweismittel, aufgezeichnet worden, und man hatte den Eindruck, als sei die Festnahme dieser beiden die Antwort auf das Buback-Attentat, weil nämlich diese beiden halt bei ihrer Festnahme im Besitz der Tatwaffe waren, im Besitz der Munition zu dieser Tatwaffe, es gab verschiedene andere Spuren, die darauf verwiesen, es gab einen Schraubendreher aus der Suzuki-Maschine, auf der die beiden Täter gesessen hatten und so weiter und so fort. Insofern war dieser Komplex ein starkes Indiz dafür, dass es damals zeitnah nach dem Buback-Attentat einen starken Verdacht gegeben hat, und es ist bis heute eine offene Frage, warum dies letztlich nicht zu einer Anklageerhebung geführt hat.

Hettinger: Nun wurde dieser Mord an Siegfried Buback ja auch medial sehr stark begleitet und in der Öffentlichkeit dargestellt. Wie kann es sein, dass eine Zeugenaussage wie beispielsweise die, dass eine zierliche Person auf dem Sozius des Motorrads gesessen habe und die tödlichen Schüsse womöglich abgegeben habe, dass solch eine Spur ja erkennbar in Vergessenheit gerät?

Kraushaar: Ja, das weiß man nicht genau. Auch das ist ja sozusagen ein Punkt gewesen, der Michael Buback im Nachhinein sehr beunruhigt hat, dass es mehrere Zeugenaussagen gegeben hat, die keinen wirklichen Eingang gefunden haben in die Gerichtsverfahren, die sich dann ja nicht gegen die Verena Becker oder Günter Sonnenberg richteten im Mordfall Buback, sondern gegen Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und Knut Folkerts. Und er hat sich darüber gewundert, und die Antwort kann man darauf einfach nicht geben, woran es gelegen hat. War es möglicherweise Schlamperei oder war es mehr als nur Schlamperei? Es gibt verschiedene Optionen, das zu klären, aber ich möchte darüber nicht spekulieren, man kann es einfach nur so feststellen.

Hettinger: Einer dieser Verdachtsmomente, warum die Spur Verena Becker derart im Sande verlaufen ist, ist die, dass es einen Zusammenhang gibt mit der Person Verena Becker und dem Verfassungsschutz. Können Sie das skizzieren?

Kraushaar: Also es gibt da zwei verschiedene Komplexe, die ja auch gegenwärtig in der Presse und der Öffentlichkeit diskutiert werden. Es gibt einmal nachweislich einen Kontakt des Verfassungsschutzes mit Frau Becker aus der Zeit nach ihrer Verhaftung, und es wird ja dazu auch heute Abend in der ARD ein Film zu sehen sein von Egmont Koch, in dem sich ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes darüber äußert, dass Frau Becker während ihrer Haftzeit mehrfach vom Verfassungsschutz abgeholt worden ist und finanziert worden ist. Sie soll eine doch beträchtliche Summe im Laufe der Zeit erhalten haben durch ihre Aussagebereitschaft, und es gibt ja ebenfalls die Diskussion darüber, warum eine Akte verschlossen worden ist oder immer noch unter Verschluss gehalten wird durch das Bundesinnenministerium, in der sich Frau Becker über das ganze Geschehen des Buback-Attentats ausführlich geäußert haben soll. Und es wäre natürlich wichtig, dass das der Bundesanwaltschaft erstens vollständig zur Verfügung gestellt wird und dass das zweitens dann, falls es zu einer erneuten Anklageerhebung kommen sollte, dann auch in ein solches Verfahren einfließt. Das muss man dazusagen, das ist eine Dimension. Die zweite Dimension ist ausgelöst worden durch einen Fund des Südwestrundfunks im Jahre 2007, dieser Fund bezieht sich auf zwei Dokumente, die aus den Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR stammen. Und in diesen Unterlagen wird behauptet, dass die Terroristin Verena Becker seit 1972 durch westdeutsche Geheimdienste kontrolliert und bearbeitet würde. Was das im Einzelnen bedeutet, ist völlig offen, daran haben sich inzwischen viele Spekulationen angeschlossen, aber dadurch wird natürlich auch noch ein zusätzlicher Verdacht genährt, ob es nicht bereits schon sehr viel früher zu einem Kontakt von Frau Becker zu Angehörigen des Verfassungsschutzes gegeben hat. Ich glaube, dass diese ganze Frage, die letzte Frage, besonders offen ist. Natürlich ist es naheliegend, dass es dazu Spekulationen hat geben können, aber man sollte sich sehr zurückhalten, weil es kann auch sein, dass diese Information des MFS aus dem Jahre 1977 und 78, dass die sehr dürftig sind, es sind zum Teil auch Fehlinformationen darin enthalten, also das ist wirklich mit Zurückhaltung zu beurteilen.

Hettinger: Es gibt einen Hinweis, dass bereits 1972 im Umfeld einer Formierung namens "Bewegung 2. Juni" hier Kontakte bestanden haben könnten zwischen Verena Becker und dem Verfassungsschutz. Wie bewerten Sie solche Informationen?

Kraushaar: Also das ist mehr als ein Hinweis, das kann man als Tatsache feststellen, das ist in mehrere Gerichtsverfahren eingegangen. Es ist einfach so gewesen, dass die Schwierigkeiten des Verfassungsschutzes, die RAF sozusagen auszuspionieren, Informationen zu bekommen, um sozusagen Vorsorge zu treffen für mögliche Anschläge oder sonstige Dinge, dass die besonders schwierig waren. Man ist dann offenbar einen Umweg gegangen über Mitglieder der "Bewegung 2. Juni", die sehr viel stärker subkulturell verankert waren und deshalb eher zugänglich waren. Und das hat sich vor allen Dingen in Berlin abgespielt, in Westberlin, und es hat eine Subzelle der "Bewegung 2. Juni" gegeben, zu der neben Verena Becker auch Inge Viett gehörte, und ein Mann namens Ulrich Schmücker. Und mit Ulrich Schmücker hat es eine ganz besondere Bewandtnis, denn der ist in der Tat angeworben worden vom Verfassungsschutz, das haben Gruppenmitglieder mitbekommen, dass er angeworben worden war, und er ist dann in einer Art von Gerichtshof der "Bewegung 2. Juni" zum Tode verurteilt und umgebracht worden im Juni 1974. Wer diesen Mann, dieses Mitglied der "Bewegung 2. Juni" damals ermordet hat, ist trotz fünf Gerichtsverfahren, die es dann in der Folge gegeben hat, bis auf den heutigen Tag ungeklärt. Interessant ist aber, dass die Tatwaffe bereits wenige Tage nach der Ausführung dieses Mordes in einem Tresor des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz gelagert worden ist. Und das Ganze ist erst herausgekommen, ich glaube, Anfang der 90er-Jahre. Und das ist eine ebenfalls ungeklärte Geschichte. Und mit diesem Komplex, dem ungeklärten Komplex des Falls Schmücker, steht halt der Komplex Verena Becker in Verbindung, denn sie gehörten zu einer kleinen Gruppe der "Bewegung 2. Juni", die wiederum nur über ein halbes Dutzend an Personen etwa verfügte.

Hettinger: Schönen Dank. Das war der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung über die mögliche Rolle von Verena Becker beim Mord am ehemaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Und der Film, auf den Wolfgang Kraushaar eben hingewiesen hat, der läuft heute Abend um 23 Uhr 30 im Ersten. "Bubacks Mörder" heißt er, "auf der Spur eines ungeklärten Verbrechens". Autor ist Egmont Koch.