Wie Politiker mit Stress umgehen
06:10 Minuten
Noch mehr arbeiten, zum Wandern in die Berge fahren oder eine Auszeit von der Politik nehmen: Politiker gehen mit der enormen Arbeitsbelastung unterschiedlich um. Anders als früher sind Themen wie Burn-out und Überforderung keine Tabus mehr.
Steffen Regis steht auf einem Schiffsanleger an der Kieler Förde. Gerade legt die kleine Fähre hinüber zum anderen Ostseeufer ab. Rundherum schaukeln die festgemachten Segelboote im Wind. Regis kommt ins Träumen:
"Es ist manchmal schon reizvoll schon zu sagen: Jetzt einfach mal ein Wochenende komplett raus – Handy aus, nichts mehr mitkriegen, irgendwo anders hin!"
Plötzlich nicht mehr Herr über sich selbst
Der 32-Jährige ist Co-Vorsitzender der schleswig-holsteinischen Grünen. Im März sorgte er mit einer Nachricht für Aufsehen. Via Facebook teilte er mit, dass er erschöpft sei und eine vierwöchige Auszeit nehmen werde. Offenbar hatte er seine körperliche und auch seelische Belastungsgrenze überschritten.
"Ich hatte einen relativ langen Arbeitstag. Abends habe ich dann dagesessen und gemerkt: Ich fühle mich komplett leer – und ich kann mich gar nicht mehr bewegen! Das ging etwa eine Viertelstunde so und war ein sehr beängstigender Moment. Ich hatte den Eindruck, ich bin gar nicht mehr so richtig Herr über mich selbst."
Inzwischen geht es Steffen Regis besser, er hat sich professionelle Unterstützung geholt und ist zurück im Job. Erst am vergangenen Wochenende wurde er auf einem Parteitag mit mehr als 90 Prozent der Stimmen als Landesvorsitzender bestätigt.
Regis versucht, seine Strategien im Umgang mit Stresssituationen zu verbessern. Anderseits sagt er: Stress kann auch positive Gefühle auslösen. Ihm ist klar, dass der Umgang mit Druck von vielen Seiten für Spitzenpolitikerinnen und -politiker Alltag ist.
"Aber das ist natürlich gar kein guter Zustand – weil das auch abschreckend wirkt auf viele Leute, die politisch wirklich gut sein können. Nicht die härtesten sind die besten Politikerinnen und Politiker, sondern durchaus auch die, die weichere Eigenschaften mitbringen, wie Dialogbereitschaft und Kompromissbereitschaft. Das sind eigentlich diejenigen, die der Politik guttun."
Steffen Regis sagt, dass er kein Mitleid wolle. Er erhofft sich, mit der offenen Thematisierung seiner Erkrankung den Umgang mit Erschöpfungszuständen und psychischen Problemen in der Politik zu enttabuisieren.
"Man muss bereit sein, auch mal einen Fehler zu machen"
"Corona erfordert von uns sehr schnelle, gegebenenfalls auch unter Unsicherheit zu treffende Entscheidungen. Da muss man bereit sein, auch mal einen Fehler zu machen", sagt Bernd Buchholz, Wirtschaftsminister in Kiel und womöglich das rastloseste Regierungsmitglied der Jamaikakoalition aus CDU, Grünen und FDP.
Der FDP-Politiker ist jemand, der gern entscheidet und unter hohem Tempo agiert. "Aus meiner Sicht ist Stressreduzierung gerade durch mehr Arbeit möglich", sagt er, "indem man sich noch mehr reinkniet, noch genauer weiß, worüber man redet. Dann wird das Ganze auch leichter im Umgang und in der Bewältigung."
Professionelle Hilfe suchen, statt alles in sich reinzufressen
Der 59-Jährige scheint seinen Ruf als "harter Hund" zu bestätigen. Dabei ist ihm das Thema Überlastung nicht fremd. Buchholz kommt aus der freien Wirtschaft, saß im Vorstand der Bertelsmann AG. Der dortige Vorsitzende habe später öffentlich gemacht, zeitweise unter Burn-out-Symptomen gelitten zu haben.
Leider würden Führungskräften in Wirtschaft, Verwaltung und Politik psychische Probleme immer noch als Schwäche ausgelegt. Doch das sei Quatsch, sagt Buchholz:
"Das muss man offensiv angehen, und das muss man auch transparent machen! Wenn man sagt: Ich habe im Umgang mit solchen Themen so meine Probleme, dann ist professionelle Beratung immer besser, als die Dinge in sich reinzufressen. Deshalb finde ich es gut, wenn so etwas mal offen geäußert wird, und wenn man auch sagen kann: Die Belastungen in der Politik sind nicht ohne!"
"Wir halten ganz viel aus"
In der 80.000-Einwohnerstadt Neumünster wird am Wochenende ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Wie weit die SPD mit ihrem Kandidaten Tobias Bergmann kommen wird, ist offen.
An diesem Mittwoch ist die Landeschefin und stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Serpil Midyatli für einen Wahlkampfspaziergang nach Neumünster gekommen. Trotz des strömenden Regens ist der Ortstermin für sie eine willkommene Abwechslung, um den Marathon aus Videokonferenzen und Schreibtisch-Einsamkeit zu durchbrechen.
"Mir fehlt das tatsächlich ganz besonders", sagt Midyatli. "Weil mich das erdet. Für mich ist das eine ganz wichtige Rückkopplung, ob Dinge auch praktikabel sind. Ich bin ja eine Praktikerin. Ich will immer, dass Politik auch funktioniert, dass sie ankommt."
Im Sommer will Midyatli Ralf Stegner als Fraktionschef im Kieler Landtag beerben. Spätestens dann hätte sie einen politischen Vollzeitjob. Eine gute Selbstorganisation wird dann noch wichtiger – aber auch die Fähigkeit, rechtzeitig eine Atempause zu machen.
Wer als Spitzenpolitiker gesundheitliche Probleme öffentlich mache, gebe auch einen Teil der eigenen Persönlichkeit preis, so Midyatli, "und läuft dann natürlich auch Gefahr, dass das Ganze kommentiert wird. Ich denke schon, dass sich viele darüber Gedanken machen. Wir sind ja immer im Fokus und halten ganz viel aus."
Mit in Neumünster ist an diesem Tag auch Kevin Kühnert. Der ehemalige Juso-Chef und stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende sagt: Auch in vielen anderen Gesellschaftsbereichen sei das Risiko groß, körperlich und seelisch krank zu werden.
"Ich glaube, die Gefahr besteht darin, sich das nicht einzugestehen und einfach weiter durchzuarbeiten, obwohl man eigentlich schon auf dem Zahnfleisch unterwegs ist."
Ihm helfe es, im Sommer eine zweiwöchige Auszeit beim Wandern in den Bergen zu nehmen, um wieder aufzutanken und davon lange zu zehren. In politischen Spitzenämtern gebe es nun mal weder feste Arbeitszeiten noch Urlaubsvertretungen, so der 31-Jährige.
"Man muss im Wesentlichen alles selbst machen und die Verantwortung dafür übernehmen. Aber ich will überhaupt nicht jammern. Das ist ja eine freie Entscheidung, die wir getroffen haben, wenn wir uns zur Wahl stellen."
Corona verändert den Blick auf Politiker
Umso mutiger und wichtiger findet es Kühnert, wenn Politikerinnen und Politiker offen über ihre Situation sprechen.
Der SPD-Tross ist nun vor einer Erdgeschoss-Wohnung angelangt. Ein kräftiger Mann mit kahlgeschorenem Kopf beugt sich aus dem Fenster und macht sich laut hörbar Gedanken über Deutschland. Sein Blick auf die Politiker habe sich in Corona-Zeiten verschlechtert, sagt Bernd Koss. Doch alle Amtsträger über einen Kamm scheren will der 57-Jährige auch nicht. Politiker seien doch auch nur Menschen.
"Wenn da einer krank ist, dann soll er sich abmelden wie jeder andere auch. Dann soll er zum Arzt gehen und sagen, es geht nicht mehr – und nicht einfach nur weitermachen und dann vor laufender Kamera umkippen."
An der Oberbürgermeisterwahl in Neumünster will Bernd Koss am Sonntag auf jeden Fall teilnehmen. Wen er wählt, hat er noch nicht entschieden.