Krankheit als Ausnahmezustand und Normalität

11.02.2011
"Das innere Auge" zeigt Oliver Sacks als einfühlsamen und wissbegierigen Arzt, der die Medizin als Heil- und eine Art Lebenskunst begreift. Das Buch überträgt neurologisches Wissen rund um den Sehsinn - und die Warmherzigkeit des Autors.
Typisch Oliver Sacks. Im Januar 1999 erhielt der New Yorker Arzt einen erstaunlichen Brief. "Mein (sehr ungewöhnliches) Problem ist in einem Satz und unmedizinisch ausgedrückt: Ich kann nicht lesen", schrieb ihm die 67-jährige Konzertpianistin Lilian Kallir. Wieso konnte die Frau, obwohl des Lesens nicht mächtig, das Schreiben verfassen? Sacks lud sie in seine Praxis ein und befasste sich im Folgenden gründlich mit der Posterioren Kortikalen Atrophie, die als Sonderform der Alzheimer-Krankheit gilt und das Erkennen von Einzelheiten, etwa von Wörtern, erschwert.

Wie Lilian Kallir ihren Alltag meisterte und wie Sacks den neurologischen Zusammenhängen auf den Grund ging, davon handelt die erste der neuen Fallgeschichten in "Das innere Auge". Sacks erzählt von der Patientin Patricia, die nach einer Gehirnblutung ins Wachkoma fiel – einen "zombieartigen Zustand, in dem bestimmte primitive Reflexe zwar noch vorliegen, aber kein zusammenhängendes Bewusstsein" vorhanden ist –, und den Totalverlust der Sprache erlitt (Aphasie), dank guter Betreuung aber beträchtliche Kommunikationsfähigkeiten und ihre Lebensfreude zurückgewann.

Im Weiteren stehen Phänomene und Störungen des Sehsinns im Zusammenspiel mit dem Bewusstsein im Vordergrund, unter anderem Stereoskopie, Gesichtsblindheit, Wortblindheit, Seelenblindheit, topografische Agnosie (die Unfähigkeit zur Orientierung). Sacks verknüpft seine Untersuchungen und Erlebnisse als Arzt mit den Befunden der Fachliteratur. Er referiert aus der Medizingeschichte und eigenen Büchern, schildert selbst üble Krankheitsverläufe in hellem Tonfall und erläutert immer wieder mit Begeisterung die neurologische Plastizität, also die wundersame Fähigkeit zu radikalen Veränderungen innerhalb ganzer Hirnareale.

Schließlich konzentriert sich Sacks auf seinen eigenen Fall. Nach plötzlich aufgetretenen Sehstörungen wurde 2005 an seinem Auge ein bösartiger Tumor entdeckt: "In meinem Kopf begann eine Stimme 'KREBS, KREBS, KREBS' zu brüllen." Sacks berichtet vom Krankheitsverlauf in Tagebuchform und wird dabei naturgemäß sehr persönlich. Seine mit vielen Zeichnungen illustrierten, grandios detailreichen Beschreibungen diverser Beeinträchtigungen wirken manchmal obsessiv. Vorläufig hat die Krankheit bei ihm ein "riesiges 'Nirgendwo' im rechten Gesichtsfeld und im Gehirn" zurückgelassen. Das letzte Kapitel – "Das innere Auge" – hebt mit der philosophischen Frage an: "Inwieweit sind wir die Urheber, die Schöpfer, unserer Erfahrungen?" Weil Sacks jedoch kein Philosoph ist, bleibt er auch hier seinem Stil treu: Er erzählt von Menschen, Neuronen und Neurologie, über Krankheit als Ausnahmezustand und Normalität.

"Das innere Auge" zeigt Oliver Sacks als einfühlsamen und wissbegierigen Arzt, der die Medizin nicht nur als Heil-, sondern sogar als eine Art Lebenskunst begreift. Das Buch überträgt viel neurologisches Wissen rund um den Sehsinn – und nicht weniger die Warmherzigkeit des Autors. Sacks Fallgeschichten sind keine Fachstudien zum Zweck abstrakter Erkenntnis. Er schätzt die Wissenschaft, insofern sie den Menschen dient. Wer diese Perspektive teilt, wird das niemals auf Sensation abzielende Buch gern lesen. Und seine ungetrübte Lesefähigkeit als wertvolles Gut begreifen.

Besprochen von Arno Orzessek

Oliver Sacks: Das innere Auge. Neue Fallgeschichten
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Rowohlt, Berlin 2011
282 Seiten, 19,95 Euro