Kraft im Quadrat

Von Lydia Rilling · 07.06.2012
Thronte für viele Komponisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das übermächtige Vorbild Beethovens allzu einschüchternd über dem Streichquartett, erlebte es in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt dank des englischen Arditti Quartetts eine unerwartete Renaissance. Zu einem guten Teil ist es der Qualität dieses Ensembles und seiner Freude an stilistischer Pluralität zu verdanken, dass die Gattung immer noch Ikonen der Musikgeschichte versammelt.
Seit seiner Gründung 1974 hat das Quartett etliche hundert Werke uraufgeführt und viele dieser Stücke wurden den Musikern direkt in die Finger geschrieben. Auch der französisch-griechische Komponist Iannis Xenakis (1922-2001) ließ sich vom Können der Musiker zu einem Meilenstein der neueren Quartett-Literatur anregen. Seine 1983 uraufgeführte Komposition Tetras verlangt von den Musikern nicht nur technische Virtuosität, sondern auch eine außergewöhnlich gute Koordination untereinander. Der Titel bedeutet auf griechisch Vier und ähnlich wie die vier Musiker in diesem einen Wort zusammen gefasst sind, behandelt Xenakis das Quartett wie einen einzigen großen Organismus.

Das Violin-Solo zu Beginn sticht in dieser Hinsicht deutlich aus der Faktur des Werks hervor. Zugleich exponiert es mit einem langen Glissando direkt das wichtigste klangliche Element des Stücks. Die Gestaltung von Glissandi hatte schon im Zentrum der Orchesterkomposition Metastasis gestanden, mit der Xenakis 1955 der internationale Durchbruch gelungen war.

Ursprünglich als Architekt und Ingenieur ausgebildet, arbeitete er nach seiner Flucht aus Griechenland, wo er wegen seines Widerstandes gegen die deutsche Besatzung von der Nachkriegsjunta zum Tode verurteilt worden war, in Paris im Studio des Architekten Le Corbusier und begann parallel ein Kompositionsstudium. In der Folge entwickelte er Analogien zwischen Musik und Architektur – wie die Klangmassen von "Metastasis" – und leitete musikalische Strukturen häufig von mathematischen Modellen ab, zum Beispiel von stochastischen Formeln wie in "Tetras".

Dort setzt Xenakis anders als in "Metastasis" vor allem kurze Glissandi ein, die sich im Zickzack entlang einer Sägezahnlinie bewegen. Diese gezackten und zuweilen atemberaubend schnellen Glissandi sind zwar nur eines von sechs Klangelementen, die das Quartett prägen. Doch sie dominieren den Klangeindruck des Stücks, da sie drei seiner insgesamt neun Teile bestimmen. Vor allem im dritten Abschnitt werden sie stark variiert, indem ihre Dichte, ihr Register, ihre Geschwindigkeit sowie der Grad der Synchronisierung der vier Streicher verschoben werden.

Wenn am Ende von "Tetras" schließlich ein Instrument nach dem anderen in ein sehr hohes, sanftes und langsames Glissando einstimmt, erreicht Xenakis damit einen geradezu ätherischen Ausklang, der für viele seiner Kompositionen typisch ist.

Die packende Wirkung von Tetras entsteht vor allem durch die hohe Virtuosität der rasanten Glissando-Passagen des Ensembles und dem außerordentlich kraftvollen und verdichteten Gestus des Stücks. Über gut 17 Minuten hinweg hält Xenakis eine ungemein hohe Intensität und Anspannung aufrecht. Die Energie eines ganzen Orchesters scheint in den vier Streicherpartien konzentriert zu sein. Die Verschmelzung von strenger formaler Gestaltung auf der einen und Virtuosität auf der anderen Seite macht Tetras zur Feuertaufe für ein junges Quartett.