Kottnik: Reform der Pflegeversicherung braucht Zeit

Moderation: Ernst Rommeney und Matthias Thiel · 10.02.2007
Der neue Präsident des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Klaus-Dieter Kottnik, hat die Bundesregierung darin bestärkt, die Reform der Pflegeversicherung nicht zu überstürzen. Besonders wichtig sei, dass die Unterscheidung zwischen stationärer und ambulanter Betreuung aufgehoben werde, sagte Kottnik.
Deutschlandradio Kultur: Sie stammen aus Stuttgart, waren dort Gemeindepfarrer und zuletzt 15 Jahre lang Vorstandsvorsitzender der Diakonie Stetten, einer großen Einrichtung, die mit Behinderten, psychisch Kranken, Arbeitslosen und Senioren arbeitet. Nun sind Sie seit gut einer Woche, seit dem 1. Februar Diakoniepräsident. Welches Pfund bringen Sie mit in das neue Amt, um damit zu wuchern? Das ist ja Ihr eigenes Bild.

Klaus-Dieter Kottnik: Ich habe die unmittelbare Erfahrung mit Menschen mit Behinderungen, mit alten Menschen. Ich weiß, wie sich sozialpolitische Entscheidungen auf die Menschen unmittelbar auswirken. Ich könnte das zum Beispiel an der vormaligen Gesundheitsreform deutlich machen, wie Menschen mit Behinderungen unmittelbar davon betroffen sind, wenn sie zuzahlen müssen, aber im Pflegesatz zum Beispiel diese Zuzahlungen nicht enthalten sind, was das bedeutet, was das für die Medikamente bedeutet, die nicht mehr verschreibungspflichtig sind. Meine Erfahrung ist die, dass ich weiß, wie es den Menschen geht, welche Folgen politische Entscheidungen für sie haben.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben sich ein Motto für die Diakoniearbeit gegeben: Versöhnung nach innen. Ist das notwendig? Sind Sie in der Diakonie so zerstritten?

Kottnik: Nein, wir sind nicht zerstritten, aber Sie müssen sich einfach vor Augen halten, dass wir einen Prozess der Erneuerung und einen Prozess der Neuaufstellung der Diakonie hinter uns haben. Das Diakonische Werk war ja bis vor einigen Jahren noch ausschließlich in Stuttgart. Ein ganzer Anteil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten mit der Strukturreform, die es gegeben hat, nach Berlin umziehen. Andere sind ausgeschieden. Die Dritten wissen noch nicht genau, werden sie in Stuttgart bleiben oder werden sie nach Berlin umziehen müssen, weil in Berlin ja vor allem die sozialpolitischen Zentren sind. Das hat Verunsicherungen ausgelöst. Und natürlich hat auch der Rücktritt meines Vorgängers Verunsicherung bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgelöst. Da ist schon sehr viel Beruhigung eingetreten in den vergangenen Monaten durch die Arbeit der anderen drei Vorstände. Ich denke, wir sind jetzt daran, wieder einen ganz engen Schulterschluss vorzunehmen und die Diakonie auch zu profilieren.

Deutschlandradio Kultur: Aber an der Spitze der Diakonie stehen Sie ja auch im Spannungsfeld zwischen Kirche und Politik und auch zwischen Kirche und Sozialarbeit. Ist das inzwischen ein brisanter Posten?

Kottnik: Ich bin da ganz unbeschwert an der Stelle, sage ich Ihnen. Ein bisschen Erfahrung habe ich auf diesem Gebiet ja schon, weil ich ja Vorsitzender des Bundesverbands evangelischer Behindertenhilfe gewesen bin. Ich bin württembergischer Pfarrer, weiß also auch um den Zusammenhang von Kirche und Diakonie. Die Diakonie ist Teil der Kirche. Sie gehört zur Kirche. Man kann sich Kirche ohne Diakonie nicht vorstellen, weil das Evangelium einfach fordert, dass der Glaube auch zum Handeln kommt. Diakonie ist aber sozusagen der soziale Arm der Kirche, wo sich kirchliches Reden in Handeln umsetzt, und in unserem Staat damit auch sehr eng mit der Politik verbunden und auch im Gespräch, in einem sehr intensiven Gespräch mit der Politik ist. Beides zusammen macht die Gesamtheit der Kirche aus. Deshalb spreche ich eigentlich nicht so gerne von Diakonie und Kirche, sondern von Diakonie als integralem Bestandteil der Kirche.

Deutschlandradio Kultur: Sind Sie jetzt eher Pfarrer oder eher Unternehmer?

Kottnik: Ich bin bis vor einer Woche noch Unternehmer gewesen. 16 Jahre lang habe ich mit meinen Kollegen im Vorstand zusammen ein großes diakonisches Unternehmen geleitet, weiß also sehr genau, wie Unternehmen funktionieren. Aber ich habe mich als Unternehmer immer auch als Pfarrer verstanden. Das ist ein Spannungsverhältnis, das man mit sich selber austrägt. Aber das macht das Besondere der Diakonie aus, dass sie eben unternehmerisch handeln muss, ihren Auftrag nicht primär vom Staat hat, sondern innerhalb dieses Staates zum Wohl der gesamten Gesellschaft erfüllt, aber ihren Auftrag aus dem Evangelium hat. Dieses immer wieder ins Bewusstsein zu rücken, dazu sind auch die Pfarrer da.

Deutschlandradio Kultur: Machen wir es mal konkret. Welche Schwerpunkte wollen Sie setzen?

Kottnik: Mir liegt die Situation der arbeitslosen Menschen sehr am Herzen. Da habe ich auch genügend Erfahrungen sammeln können durch die Tätigkeit in der Diakonie Stetten, aber auch durch unsere Tätigkeit in Weimar. Die Diakonie Stetten ist ja mit der Stiftung Sophienhaus zusammen in Weimar einer der großen Träger der Sozialarbeit in dieser Stadt und in Weimar-Land, und dort auch tätig für arme Menschen und für arbeitslose Menschen. Das ist das eine. Das andere Thema, das mir sehr am Herzen liegt, ist die Zukunft unserer Kinder. Wir haben zwei Millionen Kinder, die in Familien aufwachsen, die von öffentlichen Leistungen leben, also von Sozialhilfe leben, die es nicht lernen, wie es ist in einer Familie zu leben, in der es Arbeit gibt, wo einer der Elternteile oder gar beide Elternteile zur Arbeit gehen. Deren Situation liegt mir sehr am Herzen. Und wenn Sie mich als Pfarrer fragen, dann möchte ich mithelfen, dass sich die Diakonie als aus dem Evangelium herkommende Sozialarbeit der Kirche, noch mehr auch von ihrem Ursprung her profiliert. Das heißt, dass mit der Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diakonie immer auch Kirche begegnet.

Deutschlandradio Kultur: Sie sprachen ja selbst davon, dass man am Arbeitsmarkt kreative Lösungen braucht. So etwas wie ein sozialer Arbeitsmarkt ist auch in der großen Koalition im Gespräch. Haben Sie selbst aus Ihrer eigenen Arbeit schon Ideen dafür?

Kottnik: Ich denke, dass es gut ist, dass man in einzelnen Bundesländern - ich komme gerade aus NRW - schon begonnen hat, die Ein-Euro-Jobs zu verlängern. Das ist eine meiner Erfahrungen, die ich gemacht habe, dass das überwiegend sehr motivierte Leute sind, die einen Ein-Euro-Job ausführen und die wieder Arbeit wollen. Und dann ist ein halbes Jahr rum und dann hat man nichts, dann ist das so ein Drehtüreffekt, so dass man da eine Verlängerung dafür einführt mit dem Ziel, auf dem ersten Arbeitsmarkt Menschen wieder zu beschäftigen. Und ich denke, es gibt neben den Menschen mit Behinderungen, die ja einen Sonderstatus haben, noch sehr viele Menschen, die nicht so ungeheuer leistungsfähig sind, dass sie auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Betätigung finden können. Für die brauchen wir noch in vielen Feldern weitere Arbeitsmöglichkeiten. Da ist sicherlich das Kombilohnmodell auch eine Möglichkeit Arbeit zu unterstützen. Aber ich denke, wir brauchen noch weitere Möglichkeiten, um nicht nur Arbeitslosigkeit zu bezahlen, sondern Arbeit mit dem Geld, das für Arbeitslosigkeit aufgebracht wird, zu finanzieren. Mir schweben da eine ganze Reihe von Tätigkeitsfeldern vor, die wir in den vergangenen Jahren durch die hohe Automatisierung auch verlassen haben. Hier in Berlin finde ich es schon ganz angenehm, wenn ich auf dem Bahnsteig auch Menschen finde, die mir eine Auskunft geben können. Das finde ich in vielen Städten nicht. Ich finde es angenehm, wenn ich in anderen Ländern auch in der Straßenbahn oder in der Bahn Menschen finde, die man ansprechen kann. Ich denke, damit ist ein Sicherheitsproblem auch gleich weg. Die Abschaffung von Schaffnern, die Abschaffung von beratenden Leuten im öffentlichen Verkehr, die hohe Automatisierung, die da erfolgt ist, hat auch zu einer Entpersönlichung geführt. An der Stelle hätten wir noch sehr viele Möglichkeiten darüber nachzudenken, wie noch weitere Arbeitsmöglichkeiten geschafft werden.

Deutschlandradio Kultur: Erinnern wir uns noch mal an Ihren bisherigen Aufgabenbereich, an Stuttgart und auch an Weimar. Haben Sie es denn geschafft, dass Sie behinderte Menschen, psychisch kranke Menschen, arbeitlose Menschen aus den diakonischen Werkstätten an den ersten Arbeitsmarkt herausgekriegt haben?

Kottnik: Wir haben es mit unseren Arbeitslosenfirmen geschafft. Das war fast ein Modell, das im Rems-Murr-Kreis gewesen ist. Wir haben in wenigen Jahren 180 junge Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt, nachdem sie vorher arbeitslos gewesen sind und in unseren Firmen wieder an die Arbeit herangeführt worden sind. Diese Firma mussten wir erheblich reduzieren, weil in Baden-Württemberg die Zuschüsse dafür gestrichen worden sind und mit dem Streichen der baden-württembergischen Zuschüsse auch gleichzeitig die europäischen Zuschüsse gefallen sind. Da mussten wir diese Arbeit aufgeben. Ein Wiederbeleben solcher Tätigkeiten fände ich sehr gut.

Deutschlandradio Kultur: Sie nannten Kinder armer Familien als ein wichtiges Betätigungsfeld für Sie. Was tut die Diakonie ganz konkret? Und was muss noch mehr getan werden, damit das nicht zu einem großen gesellschaftlichen Problem wird?

Kottnik: Ich denke, wir haben eine Reihe von Angeboten, die aber so ein bisschen nebeneinanderher existieren. Wir haben Kindertagesstätten. Wir haben Kindergärten. Wir haben Elternschulen. Wir haben Familienberatungsstellen. Wir haben Mütterschulen und ähnliche Dinge, aber jeder arbeitet so ein bisschen vor sich hin. Allein, wenn man das zusammenführen würde - wir haben Sprachunterricht für Kinder aus Migrantenfamilien, wenn man das zusammenführen könnte, könnte man die Hilfen sehr viel mehr konzentrieren, so wie in England. Ich komme gerade aus Nordrhein-Westfalen und weiß, dass dort in der Diakonie angedacht wird, Zentren um die Kindertagesstätten herum zu bilden. Das wäre etwas, was mir vorschweben würde, wo man die Hilfe sehr viel effizienter anbringen könnte. Ich sage es immer wieder: Wir klagen darüber, dass wir zu wenig Kinder haben. Wir müssen was tun für die Kinder, die wir haben.

Deutschlandradio Kultur: Ein anderes Feld ist aber auch die alternde Gesellschaft. Vielfach wird ja heute auch schon von einem Pflegenotstand gesprochen. Was sind Ihre Forderungen an die Politik, dass es dort endlich mal zu menschlicheren Verhältnissen kommt?

Kottnik: Ich finde es sehr gut, dass die Bundesregierung sich Zeit lassen möchte die Pflegeversicherung zu reformieren und nicht hopplahopp die Reform durchführen möchte. Ich halte es für außerordentlich notwendig, dass es diese Unterscheidung zwischen stationär und ambulant nicht mehr gibt. Nehmen wir ein Beispiel: Menschen, die in betreuten Seniorenwohnungen leben, müssen nach dem jetzigen Recht umziehen, wenn sie schwerstpflegebedürftig werden. Sie müssen aus ihrer Wohnung heraus. Das heißt, die betreuten Seniorenwohnungen haben keine Chance, allen Menschen auch bis zum Lebensende zu helfen. Hier eine größere Durchlässigkeit zu bewerkstelligen, dass auch in den Seniorenwohnungen schwerstpflegebedürftige Menschen, die jetzt in ein Heim umziehen müssten, gepflegt werden können, hielte ich für außerordentlich erforderlich. Und ich denke, dass auch für die Pflege mehr Finanzmittel zur Verfügung stehen müssen. Ich kann von den kirchlichen Einrichtungen sagen, die ich kenne, dass dort mit hoher Motivation gearbeitet wird und an vielen Stellen auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bereit sind, sich über das Übliche hinaus einzusetzen. Aber es geht heute doch oftmals sehr hektisch zu, weil die Personalausstattungen sehr angespannt sind.

Deutschlandradio Kultur: Finden Sie da denn überhaupt noch Nachwuchs?

Kottnik: Es ist so, dass man in den Ausbildungsstätten noch Auszubildende hat. Es wird aber schwieriger. Zurzeit ist es so, und da haben wir in Baden-Württemberg ein Modell dafür entwickelt, dass nicht alle ausgebildeten Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger, also die Menschen, die mit behinderten Menschen arbeiten, auf dem Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz bekommen. Wir haben in Baden-Württemberg ein Modell entwickelt, wie man nur binnen eines Jahres gleichzeitig auch die Ausbildung zum Altenpfleger haben kann, eine Zusatzausbildung. Das halte ich für modellhaft, was wir da mit der Landesregierung in Baden-Württemberg auf den Weg gebracht haben. Das sind dann hervorragend, dann äußerst hervorragend ausgebildete Menschen, die nicht nur Pflege gelernt haben, sondern die auch pädagogisch den fördernden Anteil an der Pflege im Blick haben. Dieses auch in anderen Ländern zu machen, hielte ich für gut. Denn Heilerziehungspfleger und Heilerziehungspflegerinnen wird es in der Zukunft zu viele geben.

Deutschlandradio Kultur: Wechseln wir vom Ende des Lebens zum Anfang. Sie kommen aus der Behindertenarbeit. Was halten Sie von der Pränataldiagnostik?

Kottnik: Gut, die Pränataldiagnostik ist da und was als wissenschaftliche Erkenntnis da ist, wird man nicht abschaffen. Ich habe aber schon seit vielen Jahren gesagt, dass man sehr bewusst die Pränataldiagnostik anwenden soll und dass Menschen sich im Klaren darüber sein sollten, wenn sie die Diagnostik durchführen, was das für Folgen für sie haben kann. Deshalb war mir zum Beispiel schon damals bei der Reform des § 218 wichtig, dass es eine gute Beratung gibt. Die ist an vielen Stellen nicht vorhanden. Es muss für mich darum gehen, dass man ganz bewusst weiß, was man tut.

Deutschlandradio Kultur: Was halten Sie von der Präimplantationsdiagnostik? Das heißt, dass Menschen mit Furcht vor familiären genetischen Behinderungen rechtzeitig über die künstliche Befruchtung testen, was sie denn für ein Kind bekommen würden, und dass entsprechend der Arzt auswählt, wie er die Befruchtung anlegt – ein bislang umstrittenes gesellschaftliches Thema.

Kottnik: Also, das ist umstritten und ich werde es auch immer bestreiten. Ich finde es furchtbar, dass man sich praktisch einen Menschen konstruieren kann. Wie schrecklich, wenn dieser Mensch sich dann anders entwickelt, als man es sich vorgestellt hat als Vater und Mutter. Denn mit dem, was man sich da konstruieren lässt, hat man ja auch ein bestimmtes Bild. Und dieses Bild wird kein Mensch erfüllen. Wie wird man dann damit fertig, dass der Mensch sich anders entwickelt? Für mich heißt das wirklich einen Eingriff in die Persönlichkeit, die für uns als Menschen unverfügbar sein muss, weil der Mensch einfach ein Ebenbild Gottes darstellt. Für mich heißt das auch, einen Eingriff in den Schöpfungsplan Gottes vorzunehmen.

Deutschlandradio Kultur: Werden denn Eltern, die sich ein Kind wünschen, auch wenn sie wissen, dass es behindert sein wird, genügend in unserer Gesellschaft unterstützt? Erhalten sie genügend Hilfe oder muss da nicht noch sehr viel mehr getan werden?

Kottnik: Es gibt Frühberatungsstellen für Eltern mit behinderten Kindern. Es wird darauf geachtet, dass diese Frühberatungsstellen auch mit den Kinderkrankenhäusern zusammenarbeiten. Ich denke aber, dass an manchen Stellen nicht genügend Aufklärung darüber da ist. Viel wichtiger ist auch, dass wir ein gesellschaftliches Klima haben, in dem Kinder, in dem Menschen mit Behinderungen angenommen werden, dass man sie nicht defizitär ansieht, sondern als Menschen mit eigenen Qualitäten. Ich, der ich jetzt viele Jahre mit Menschen mit Behinderungen zusammengelebt habe, kann mir überhaupt nicht eine Gesellschaft - die wäre furchtbar arm - vorstellen, in der es keine Menschen mit Behinderungen mehr gibt. Wobei dieses Ziel, Menschen mit Behinderung überhaupt nicht mehr zu haben, sowieso aberwitzig ist. Es ist immer noch so, dass die Behinderungen größtenteils nicht auf genetischen Ursachen beruhen, sondern viele Behinderungen werden während des Lebens, während der Frühphase, auch noch während der Geburt erreicht. Und wir dürfen uns keine Gesellschaft vorstellen, in der es Menschen mit Behinderungen nicht mehr gibt, weil das eine irreale Vorstellung ist. Eine reale Vorstellung ist die, Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft den entsprechenden Raum zur Entfaltung zu geben und diese Menschen als bereichernd für uns selber zu erfahren. Oft genug habe ich erlebt, wie auch junge Menschen, die ihren Weg gesucht haben, mit ihrem Leben noch nicht so richtig zu Rande gekommen sind, durch die Erfahrung des Zusammenlebens, der Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen ihren Lebenssinn gefunden haben, an sich neue Dinge entdeckt haben, an sich Emotionen entdeckt haben, an sich Fähigkeiten entdeckt haben, die sie vorher nicht gehabt haben. Also, Menschen mit Behinderungen fordern uns heraus Fähigkeiten zu entwickeln, die an vielen Stellen sonst verborgen wären. Insofern halte ich es einfach für eine katastrophale Vorstellung, Menschen mit Behinderungen in einer Gesellschaft nicht mehr haben zu wollen. Wir müssen eine Gesellschaft haben, in der Menschen mit Behinderungen akzeptiert sind und dazu gehören.

Deutschlandradio Kultur: Mich hat immer berührt, wenn Mütter erzählt haben, dass sie sich auf ihr behindertes Kind freuen, aber in der Familie, in der Freundschaft, in der Verwandtschaft auf Unverständnis gestoßen sind. Passiert so etwas häufig?

Kottnik: Das passiert immer wieder. Ich meine, gerade die Pränataldiagnostik wird ja deshalb angewandt, weil die Umwelt häufig sagt: Du kannst doch gar nicht mit einem Menschen mit Behinderungen leben? Willst du dir das zumuten? Was wirst du für ein schweres Leben haben? Und man muss das ja auch sagen. Es ist häufig ein großer Einschnitt in das Leben eines jungen Paares, wenn ein Kind mit Behinderungen geboren wird. Aber man entdeckt dann im Laufe der Zeit, wie sich der andere Reichtum auftut. Und eigentlich sollte das ansteckend sein auf die Umgebung.

Deutschlandradio Kultur: Herr Kottnik, das Diakonische Werk hat 26.800 Einrichtungen. Ich war ganz erstaunt, als ich die Zahl das erste Mal gelesen habe. Sie beschäftigen 420.000 Mitarbeiterinnen und werden von 400.000 Ehrenamtlichen unterstützt. Gerade beim Stichwort Ehrenamtliche sind immer wieder Klagen zu hören, dass sie sich zu wenig unterstützt fühlen und ja oftmals alleine gelassen sind, die volle Verantwortung tragen, aber im Grunde genommen keine Unterstützung bekommen. Was können Sie denen sagen? Wie kann man auch neue Menschen, andere Menschen ans Ehrenamt heranführen, wenn man immer wieder hört, dass eigentlich die aktiven Ehrenamtlichen so allein gelassen werden?

Kottnik: Also, ich glaube, das ist ein bisschen ein altes Bild von Ehrenamtlichen, jedenfalls aus den diakonischen Einrichtungen, die ich kenne, das Sie hier vorführen. Es ist so, dass in den diakonischen Einrichtungen ein Bewusstsein wächst, dass es gut ist, wenn Ehrenamtliche tätig sind, und zwar nicht– deshalb sage ich, es ist ein überholtes Bild – wie früher, so kenne ich es noch aus der Einrichtung, in der ich noch Verantwortung getragen habe, so als Sonntagshelfer. Das heißt, damit die Professionellen Urlaub machen können, holte man Ehrenamtliche mit rein. Oder wenn Professionelle fehlen, dann sollen die Ehrenamtlichen die Tätigkeit ausüben. Da ist heute die Profession viel zu weit entwickelt. Man kann professionelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr durch Ehrenamtliche ersetzen. Aber man kann Ehrenamtlichen Erfahrungen ermöglichen, muss sie begleiten, ihnen auch Fortbildung geben. Und man muss sie dort einsetzen, wo es ihren Neigungen entspricht. Ich sage Ihnen ein Beispiel: In der Diakonie Stetten in einer Gruppe mit schwerstmehrfachbehinderten erwachsenen Männern und Frauen hat einer dieser Männer eine Eisenbahnanlage. Diese Eisenbahnanlage zu pflegen, auszubauen, die Züge zu pflegen usw., dazu kommen die professionellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht. Wir haben aber einen Menschen entdeckt, der Lust an der Eisenbahn hat und mit diesem schwerstbehinderten Menschen die Eisenbahn ausbaut, mit der Eisenbahn spielt und sie pflegt. Beide haben Lust dazu. Das wirkt sich auch auf die Atmosphäre bei den anderen aus. Solche Aufgaben zielgerichtet ehrenamtlichen Menschen anzubieten, ich denke, das gibt es. Und wir haben einen anwachsenden Anteil an ehrenamtlichen Leuten. Da denke ich an die grünen Damen in den Krankenhäusern. Ich hatte auch eine zeitlang ein Krankenhaus geleitet. Ich habe es erlebt, wie auch Männer zu den grünen Damen dazu gestoßen sind, Lust hatten, das Pflegepersonal darin zu unterstützen, dass sie sich Zeit nehmen konnten für Gespräche, für das Dasein auf der Pflegestation bei den Patienten. Und es gibt da sehr viele Möglichkeiten. Alle großen Einrichtungen in der Diakonie haben mittlerweile so etwas wie Ehrenamtlichen-Agenturen in ihren Reihen entwickelt, wo man ein ganz besonderes Augenmerk darauf richtet, dass die Ehrenamtlichen auch was davon haben. Eine Dauerverpflichtung sollte es sowieso nicht sein. Es sollte etwas auf Gegenseitigkeit sein.

Deutschlandradio Kultur: Dennoch haben Sie gesagt, die Diakonie müsste sich darum kümmern ihr Profil zu schärfen. Nun gibt es ja alte Streitpunkte zwischen der gemeindenahen Diakonie, also der Diakonie in den Gemeinden, von den Gemeindemitgliedern getragen, und der unternehmerischen Diakonie, aus der Sie kommen. Wo stehen Sie da derzeit? Sicherlich wollen Sie alles machen, aber wo setzen Sie künftig Ihren Schwerpunkt?

Kottnik: Wir haben durch die Veränderungen, die es in der unternehmerischen Diakonie gibt, eine Bewegung hin auf die Gemeinden zu. Ich sage Ihnen auch wieder ein Beispiel aus der Behindertenhilfe. Das Gleiche kann man für die Altenhilfe, das kann man für Beratungsstellen, das kann man auch für die Nichtsesshaftenhilfe sagen und für viele andere Arbeitsbereiche, aber ich sage Ihnen jetzt ein Beispiel aus der Behindertenhilfe. Früher hat man Menschen mit Behinderungen in Anstalten versorgt, also in Großeinrichtungen. Diese Großeinrichtungen sind dabei – wie wir in der Fachsprache sagen – sich zu regionalisieren. Das heißt, wohnortnahe, gemeindenahe Angebote aufzubauen: kleine Wohnheime, Außenwohngruppen, ambulante Dienste, ambulant betreutes Wohnen. Und so, wie wir das in der Diakonie Stetten gemacht haben, machen das sehr viele, dass sie jedes neue Projekt mit der Kirchengemeinde zusammen beginnen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Menschen, die in ein neues Wohnprojekt, das wir mit Kirchengemeinden zusammen entwickelt haben, eingezogen sind, dann integraler Bestandteil der Kirchengemeinde gewesen sind und dass sich aus der Kirchengemeinde Menschen ehrenamtlich engagiert haben für die behinderten Menschen in ihrer Mitte. Das Gleiche könnten wir für die Altenhilfe und für andere Bereiche durchbuchstabieren. Wir haben also eine Bewegung der unternehmerischen Diakonie auf die Gemeinde zu. Die Gemeinde öffnet sich und in den Gemeinden entsteht Integration.

Deutschlandradio Kultur: Noch eine Frage, die man sich wohl in jeder Familie schon gestellt hat: Sollen wir einem Bettler, einem Obdachlosen auf der Straße, in der Bahn geben oder eher der Suppenküche, der sozialen Initiative, die ehrenamtlich hilft zum Beispiel.

Kottnik: Warum sagen Sie "oder"? Ich denke, es ist beides sinnvoll. Menschen, die auf der Straße sind und betteln, sind – auch in unserem Sozialstaat – manchmal Menschen, die durchs Raster durchfallen und für die es gut ist, dass sie unterstützt werden. Aber viel wichtiger ist es, nicht bloß den Groschen fallen zu lassen, vor allem nicht von oben nach unten, sondern sich auf die Menschen hin zu bewegen und sich vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle einmal Zeit zu nehmen, mit diesem Menschen zu sprechen und etwas über seine Geschichte zu erfahren. Dann wird sich Verwunderliches auftun, was diese Menschen schon hinter sich haben. Und man sollte vielleicht auch mal an der einen oder anderen Stelle mit einem solchen Menschen zusammen etwas essen gehen.