Kostbarkeiten und Kuriositäten

Der Begriff „Wunderkammer“ taucht zum ersten Mal im 16. Jahrhundert auf. Er bezeichnet Sammlungen von Kunstwerken, antiken Fundstücken, Büchern, Naturalien sowie kunstgewerblichen Raritäten in einem einzigen Raum, wie sie damals unter den europäischen Oberschichten Mode waren.
Die Fürsten taten gewissermaßen so, als seien sie Gelehrte mit einem Studierzimmer voll nachdenkenswerter Absonderlichkeiten. Es wurden eigene „Studioli“ gebaut, in den die Welt in Form von Kuriositäten und Staunenswertem repräsentiert sein sollte. Straußeneier lagen dort neben komplizierten Uhren, Korallenzweige neben Theaterkästen, antike Münzen neben Skeletten.

Die Kunsthistorikerin Gabriele Beßler hat jetzt eine Geschichte der Wunderkammern vorgelegt. Sie zeigt, wie in der Renaissance dreierlei zusammenkam, um diese Art des Sammelns hervorzubringen: Der Universalismus eines Gelehrtentums, das sich der Antike wie der Natur und den Wissenschaften zuwandte; eine Faszination durch Räume und den Gedanken, die ganze Welt in einem einzigen Anblick zusammenzubringen; schließlich das Denken in Analogien, dem jede Kuriosität auf eine geheime Bedeutung verwies.

Beßler vermeidet das bei diesem Thema verführerische Abtauchen in die unendlichen Welten der Gelehrsamkeit. Sie führt uns, fast wie eine Reiseleiterin, ist ausführlich dort, wo es sich lohnt, und knapp, wo es angemessen ist. Wir besuchen mit ihr die oberitalienischen Gehäuse, in denen sich Adlige wie Isabelle von Este in Mantua und Frederico von Montefeltro in Urbino Schauräume herrichteten. Wir sehen begehbare Monster, Kunstschränke – also mobile Wunderkammern – und Grottenautomaten mit Zyklopen und Nymphen. Von der reinen Kunstkammer unterschied sich die Wunderkammer durch ihre Aufnahme von Naturalien und wissenschaftlichen Objekten. Von der späteren Wissenschaft hingegen unterschied sie sich durch ein primär ästhetisches, anschauliches Interesse an ihren Gegenständen. Es dauerte eine Weile, bis man in der Forschung merkte, dass die alltäglichen Erscheinungen mindestens so interessant sind wie die bizarren.

Ausführlich beschreibt das Buch die prominentesten Sammlungsorte, vor allem in Italien und Deutschland, und ihre wunderlichsten Objekte. Die Autorin erörtert, was sich die Frühneuzeit unter Wunder, unter Raum und unter Erkenntnis vorstellte. Und sie erklärt uns, warum die Renaissance durch Spiegel und die Idee, die Welt als Ganze wiederzugeben, fasziniert war. Am Ende des 17. Jahrhunderts verfiel dann die Vorstellung, man könne das Wissen enzyklopädisch in Form einer Sammlung repräsentieren. Die Erkenntnisgewinne der Forschung ließen sich nicht mehr ästhetisch darstellen, und die Kunst trennte sich ihrerseits von der Gelehrsamkeit.

Doch im 20. Jahrhundert kommt es zur neuerlichen Faszination durch die Wunderkammer-Ideen. So schlägt das Buch immer wieder die Brücke zur Kunst der Gegenwart: zu Joseph Cornells surrealistischen Schaukästen etwa, zu denen von Joseph Beuys oder zu dem, was in der Kunstwelt „Installation“ heißt und nicht selten die Form einer rätselhaften Raumausstattung annimmt. Die wichtigste Wirkung der Wunderkammer in die Gegenwart hinein geht aber wohl von den Anregungen aus, die Museumsplaner ihr entnehmen. Folgt man Kunsthistorikern wie Horst Bredekamp, dann wäre beispielsweise ganz klar, was das „Humboldt-Forum“ in den Räumen des neu zu erbauenden Berliner Stadtschlosses sein müsste: Eine Wunderkammer der Gegenwart.

Gabriele Beßler: Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart
Reimer Verlag, Berlin 2009
252 Seiten, 39 Euro