Kosovo-Konflikt: Albaner, Serben und die offenen Wunden
Die Nachrichten, in denen dieser Tage der Kosovo-Konflikt wieder auftaucht, wenn es um die Verlängerung oder Nicht-Verlängerung sogenannter Friedensmandate geht, verraten wenig oder nichts über die Natur des Konfliktes.
Die Serben streiten um den Besitz eines Stück Landes, in dem vornehmlich Albaner leben; aber warum? Die Schwerverständlichkeit, für uns sogar empörende Unverständlichkeit der blutigen Balkankonflikte hat damit zu tun, dass diese Konflikte zwar mit dem Ende der Volksrepublik Jugoslawien aufbrachen, jedoch viel früher, und zwar mindestens hundert Jahre früher entstanden - nämlich beim Untergang des osmanischen Reiches.
Zuvor gab es weder Serbien noch Albanien noch Bosnien, weder Mazedonien noch Kroatien noch Slowenien. Alle diese, heute selbständigen oder nach Selbständigkeit strebenden Klein- und Kleinststaaten, waren zuvor türkisch (oder, im Norden, ungarisch) und sind erst mit dem Berliner Kongress 1878 als zeternde Nationen ans Licht der Welt getreten.
Es hat mit unserer langen Gewöhnung an den Kalten Krieg zu tun, dass wir dachten, mit seinem Ende sei der Krieg überhaupt, insbesondere aber der Völkerhass zu Ende. Doch zeigte sich, dass der Völkerhass nur ruhig gestellt war, dass der sozialistische Bündnisblock wie ein gusseiserner Deckel auf einem Kessel geruht hatte, aus dem die Antipathien sofort wieder hochsprudeln konnten. Die Trennung der Tschechen von den Slowaken, der Ukrainer von den Russen war nur der friedliche Teil der Völkerentmischung nach 1989.
Der unfriedliche Teil vollzog sich auf dem Balkan, wo die Nationen, die ehedem unter dem Dach Jugoslawiens zusammen gezwungen waren, schon eine Erfahrung und Tradition des gegenseitigen Gemetzels hatten, auf die sie zurückgreifen konnten und, wie die vorbereitenden Denkschriften der serbischen Akademie der Wissenschaften zeigten, auch immer schon zurückgreifen wollten.
Der Berliner Kongress, der seinerzeit den russisch-türkischen Krieg beendete, hatte Serbien und Bulgarien die Unabhängigkeit gegeben, und schon diese Neustaaten zeigten augenblicklich jenes räuberisch brutale Gesicht, das wenig spätere alle neuen Balkannationen einander zeigten. Sie waren nämlich keineswegs in der Ablehnung türkischer Herrschaft geeint, sondern gierig nach dem Land der anderen von allem Anfang an.
Ein Ergebnis der Balkankriege von 1912 und 1913, die daraus entstanden, war die Unabhängigkeit Albaniens, die jedoch von den übrigen Neustaaten, insbesondere von Serbien, nicht anerkannt wurde.
Das Problem war dasselbe wie heute: Die ethnische Durchmischung des Landes, die keine sauberen Grenzen erlaubte. In Albanien lebten eben auch Serben, Griechen und Montenegriner, weil es im Osmanischen Reich wie in allen Vielvölkerreichen eine Freizügigkeit gab, die auf homogene Siedlungsgebiete keine Rücksicht nehmen musste.
Im Falle der Albaner kam jedoch, ähnlich wie bei den Bosnier weiter nördlich noch etwas hinzu: sie waren mehrheitlich islamischen Glaubens und wurden daher von den christlichen Völkern ringsum wie Repräsentanten des eben vertriebenen türkischen Unterdrückervolkes gesehen. Bosnier und Albaner waren gleichsam die Herren von gestern, denen man es nun heimzahlen wollte.
Übrigens muss man auch heute nicht lange forschen, um auf dieses Hassmotiv bei den Serben zu stoßen: Die bloße Existenz islamischer Bosnier und Albaner ist ein kränkender Hinweis auf die jahrhundertelange Demütigung Serbiens.
Und erst recht auf dem Amselfeld, serbisch Kosovo polje, wo 1389 die Serben von den Türken vernichtend geschlagen wurden und ihren Weg in die Abhängigkeit antreten mussten, für viele hundert Jahre.
Den Kosovo, das Amselfeld, wieder an ein islamisches Volk abzugeben kommt der Wiederholung der historischen Niederlage gleich, von der niemand im Westen denken sollte, sie sei vergessen. Die serbischen Volkssänger, die berühmten Guslaren, haben jahrhundertelang und fast bis heute nichts anderes getan, als die Niederlage von 1389 zu besingen.
Das ist das Problem der Albaner: dass sie diese Wunde repräsentieren. Das Problem der Serben ist: dass sie nicht aufhören können, an dieser Wunde zu lecken. Das Problem des Westens aber besteht darin, dass er in solchen Kategorien nationalneurotischer Traumata nicht mehr denken kann und will. Er stellt sich dumm - und muss es wohl auch tun.
Man überlege sich nur, was geschähe, wenn Deutschland sich schon jetzt darauf präparierte, in fünfhundert Jahren blutige Revanche für den Verlust Ostpreußens zu nehmen.
Jens Jessen, Journalist, geboren 1955 in Berlin, studierte Germanistik und Kunstgeschichte. Bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart arbeitete er als Lektor für Neue deutsche Lyrik und bei Manesse in Zürich für Ältere Literatur. Anschließend war er acht Jahre lang Literaturredakteur bzw. Berliner Kulturkorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dann Feuilletonchef der "Berliner Zeitung". Jetzt leitet Jessen das Feuilleton der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT.
Zuvor gab es weder Serbien noch Albanien noch Bosnien, weder Mazedonien noch Kroatien noch Slowenien. Alle diese, heute selbständigen oder nach Selbständigkeit strebenden Klein- und Kleinststaaten, waren zuvor türkisch (oder, im Norden, ungarisch) und sind erst mit dem Berliner Kongress 1878 als zeternde Nationen ans Licht der Welt getreten.
Es hat mit unserer langen Gewöhnung an den Kalten Krieg zu tun, dass wir dachten, mit seinem Ende sei der Krieg überhaupt, insbesondere aber der Völkerhass zu Ende. Doch zeigte sich, dass der Völkerhass nur ruhig gestellt war, dass der sozialistische Bündnisblock wie ein gusseiserner Deckel auf einem Kessel geruht hatte, aus dem die Antipathien sofort wieder hochsprudeln konnten. Die Trennung der Tschechen von den Slowaken, der Ukrainer von den Russen war nur der friedliche Teil der Völkerentmischung nach 1989.
Der unfriedliche Teil vollzog sich auf dem Balkan, wo die Nationen, die ehedem unter dem Dach Jugoslawiens zusammen gezwungen waren, schon eine Erfahrung und Tradition des gegenseitigen Gemetzels hatten, auf die sie zurückgreifen konnten und, wie die vorbereitenden Denkschriften der serbischen Akademie der Wissenschaften zeigten, auch immer schon zurückgreifen wollten.
Der Berliner Kongress, der seinerzeit den russisch-türkischen Krieg beendete, hatte Serbien und Bulgarien die Unabhängigkeit gegeben, und schon diese Neustaaten zeigten augenblicklich jenes räuberisch brutale Gesicht, das wenig spätere alle neuen Balkannationen einander zeigten. Sie waren nämlich keineswegs in der Ablehnung türkischer Herrschaft geeint, sondern gierig nach dem Land der anderen von allem Anfang an.
Ein Ergebnis der Balkankriege von 1912 und 1913, die daraus entstanden, war die Unabhängigkeit Albaniens, die jedoch von den übrigen Neustaaten, insbesondere von Serbien, nicht anerkannt wurde.
Das Problem war dasselbe wie heute: Die ethnische Durchmischung des Landes, die keine sauberen Grenzen erlaubte. In Albanien lebten eben auch Serben, Griechen und Montenegriner, weil es im Osmanischen Reich wie in allen Vielvölkerreichen eine Freizügigkeit gab, die auf homogene Siedlungsgebiete keine Rücksicht nehmen musste.
Im Falle der Albaner kam jedoch, ähnlich wie bei den Bosnier weiter nördlich noch etwas hinzu: sie waren mehrheitlich islamischen Glaubens und wurden daher von den christlichen Völkern ringsum wie Repräsentanten des eben vertriebenen türkischen Unterdrückervolkes gesehen. Bosnier und Albaner waren gleichsam die Herren von gestern, denen man es nun heimzahlen wollte.
Übrigens muss man auch heute nicht lange forschen, um auf dieses Hassmotiv bei den Serben zu stoßen: Die bloße Existenz islamischer Bosnier und Albaner ist ein kränkender Hinweis auf die jahrhundertelange Demütigung Serbiens.
Und erst recht auf dem Amselfeld, serbisch Kosovo polje, wo 1389 die Serben von den Türken vernichtend geschlagen wurden und ihren Weg in die Abhängigkeit antreten mussten, für viele hundert Jahre.
Den Kosovo, das Amselfeld, wieder an ein islamisches Volk abzugeben kommt der Wiederholung der historischen Niederlage gleich, von der niemand im Westen denken sollte, sie sei vergessen. Die serbischen Volkssänger, die berühmten Guslaren, haben jahrhundertelang und fast bis heute nichts anderes getan, als die Niederlage von 1389 zu besingen.
Das ist das Problem der Albaner: dass sie diese Wunde repräsentieren. Das Problem der Serben ist: dass sie nicht aufhören können, an dieser Wunde zu lecken. Das Problem des Westens aber besteht darin, dass er in solchen Kategorien nationalneurotischer Traumata nicht mehr denken kann und will. Er stellt sich dumm - und muss es wohl auch tun.
Man überlege sich nur, was geschähe, wenn Deutschland sich schon jetzt darauf präparierte, in fünfhundert Jahren blutige Revanche für den Verlust Ostpreußens zu nehmen.
Jens Jessen, Journalist, geboren 1955 in Berlin, studierte Germanistik und Kunstgeschichte. Bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart arbeitete er als Lektor für Neue deutsche Lyrik und bei Manesse in Zürich für Ältere Literatur. Anschließend war er acht Jahre lang Literaturredakteur bzw. Berliner Kulturkorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dann Feuilletonchef der "Berliner Zeitung". Jetzt leitet Jessen das Feuilleton der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT.