Kosmopolitin auf Heimatsuche

12.04.2012
Eine neue, beeindruckende Stimme der deutschen Literatur: Olga Grjasnowa nimmt uns mit auf den schmerzvollen Selbstfindungstrip einer jungen Frau durch Bürgerkriege und Krisengebiete – und durch das Deutschland von heute.
Olga Grjasnowas literarische Heldin Mascha hat viel mit der Autorin gemeinsam: Sie kommt aus Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. Sie ist dort in den frühen 80ern geboren, zu Sowjetzeiten also - als die Lage noch stabil erschien.

Später, nach Ausbruch des blutigen Konflikts um Berg Karabach, verlässt sie ihre Heimat Richtung Deutschland – als Jüdin, als "Kontingentflüchtling", ein deutsches Bürokratenwort, das Heldin und Autorin gleichermaßen gefällt.

Beide verbindet auch, in der Schule wie Besucher von einem anderen Planeten wahrgenommen zu werden – trotz aller behaupteten Multikulturalität. Doch beide – Mascha und Olga – finden sich in die deutsche Gesellschaft ein, ohne sie völlig anzunehmen. Sie überspringen einfach ein paar Integrationsstufen und werden international, bevor sie allzu sehr verdeutschen.

Olga Grjasnowas Heldin nimmt ein Dolmetscher-Studium auf, interessiert sich für internationale Organisationen, hat libanesisch-amerikanische und türkisch-deutsche Freunde und findet Deutschland irgendwann zu klein. Sie verlässt das Land Richtung Israel, aber nicht unbedingt um ihr Jüdisch-Sein zu erkunden, sondern um wieder mal zu fliehen. Sie verlässt in diesem Roman öfter die Szenerie. Und sie hat Gründe: Ihre Liebe, ihr Freund Elias ist nach einem Unfall gestorben – wieder ein Toter in ihrer Nähe. Als Kind hatte sie miterleben müssen, wie eine Frau in Baku vor ihre Füße fiel, das Blut spritzte auf ihr Kleidchen. Diese Frau war ein Pogromopfer– "gejagt" als Armenierin. Eine frühe traumatische Erfahrung, die Mascha den gesamten rastlosen Roman über begleitet.

Mascha ist eine Getriebene – hochintelligent, kosmopolitisch, aber ohne Halt, ohne Heimat, ohne Wurzeln. Auch ihr Jüdisch-Sein hilft ihr nicht wirklich weiter auf ihrem Roadtrip zu sich selbst. In Israel liebt sie mal diesen, mal jenen, langweilt sich mit den politisch korrekten Aktivitäten der deutschen Stiftung, für die sie arbeitet und fühlt sich in Tel Aviv an die Tage ihrer Kindheit in Baku erinnert – die Trockenheit des Klimas, der Klang der Straße, das Wesen der Menschen, der Konflikt mit den Nachbarn.

Dabei sieht sie die Lage dort erstaunlich unpolitisch, geradezu naiv. Zwei-Staaten-Lösung oder etwas anderes - das ist ihr ziemlich egal. Also erstaunt es auch nicht, dass sie in Ramallah landet, dort einen Palästinenser kennen lernt, sogar in seine Familie eingeführt wird. Doch in diesem Moment spürt sie – das hier ist die Sackgasse. Von hier aus geht es nur noch zurück. Nur wohin?

Olga Grjasnowa schreibt aus der Perspektive einer unruhigen, manchmal wütenden jungen Frau, die feststellen muss, dass niemand ihr eine Heimat bieten kann. Die Autorin hat für diese Geschichte nicht nur vom ersten Satz an ihren eigenen Ton gefunden, sie hat auch im Ganzen eine unheimlich intensive, mitnehmende Literatur geschaffen, durchzogen von einer Emotionalität, die man selten findet in der Literatur ihrer Generation - und die niemanden kalt lassen kann.

Besprochen von Vladimir Balzer

Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt
Hanser Verlag, München 2012, 288 Seiten
EUR 18, 90