Korruptionsvorwürfe gegen das UNHCR

Das Geschäft mit Geflüchteten

24:48 Minuten
Mehrere Frauen mit Kindern gehen mit Bündeln und Geschirr im Arm über einen Platz.
Flüchtlinge aus dem Sudan in einem UNHCR-Registrierungszentrum in Uganda im Mai 2018. © imago images/ZUMA Press/Geovien So
Von Julia Amberger  · 02.06.2020
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Für Tausende Dollar bringen Mittelsmänner in Uganda Afrikaner mit gefälschten Papieren nach Europa, Australien oder in die USA. In das kriminelle Geschäft sollen ausgerechnet Mitarbeiter des Flüchtlingshilfswerks UNHCR verstrickt sein.
Wenn Pecos nach Hause kommt und Tee kocht, verschanzt er sich in seiner Zwei-Zimmer-Bude und verriegelt die Eisentüre mit fünf Schlössern. Er lebt weit weg von seiner Frau und seinem Sohn, am Stadtrand von Kampala, weil er fürchtet: um seine Freunde, seine Familie und sein Leben.
Pecos, ein Meschenrechtsanwalt, sagt: "Ich werde immer wieder bespitzelt. Am Donnerstag letzte Woche ist mir eine Frau den ganzen Tag gefolgt. Einmal wurde bei mir eingebrochen, alle Belege, die ich jahrelang gesammelt habe, waren weg: Dokumente, meine externe Festplatte, mein Computer. Seit ich in Uganda bin, wurde ich schon 21 Mal inhaftiert."
Pecos, der seine Angst mit einem herzhaften Lachen vertreibt, ist vor 20 Jahren aus der Demokratischen Republik Kongo nach Uganda geflohen. Hier darf er zwar keine Mandate annehmen. Aber er setzt sich für andere Geflüchtete ein. Dabei hat er sich mit jemandem angelegt, der extrem mächtig ist: Mit dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, dem UNHCR. Mit einem Budget von 7,8 Milliarden Euro und 17.000 Mitarbeitern hilft die Organisation überall, wo Krieg und Elend herrschen. Seit 70 Jahren. Für Pecos ist sie vor allem ein Problem, weil sie sich auch um das Thema "Resettlement" kümmert, die Umsiedlung von Flüchtlingen in die westliche Welt.
Sein Vorwurf lautet: "Die Leute, die umgesiedelt werden, sind oft gar keine echten Flüchtlinge. Sie nutzen den UNHCR, um nach Europa zu gelangen."

Der Traum von der legalen Umsiedlung

Resettlement ist für viele Flüchtlinge die begehrteste Chance auf ein neues Leben. Es bedeutet, dass ein Flüchtling nicht in einem Schlauchboot über das Mittelmeer muss, sondern mit dem Flugzeug in die USA, nach Australien oder Europa geflogen wird. Ohne zusätzlichen Asylantrag. Ohne Risiko. Ganz offiziell. Reserviert ist das Verfahren für die Bedrohtesten und Schutzlosesten. Die, die auch im Nachbarland verfolgt werden oder deren Krankheit dort nicht heilbar ist. Eigentlich eine wunderbare, humanitäre Errungenschaft.
Stattdessen werde jedoch umgesiedelt, wer zahlt, sagt Pecos: "Hier in Ostafrika zahlen die Menschen 3000 bis 7000 Dollar an korrupte Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und landen in Europa. In Westafrika zahlen sie Schleppern 5000 bis 10.000 Dollar, und sie müssen noch das Mittelmeer überqueren. Die Kosten sind fast dieselben, nur dass die Mittelmeer-Flüchtlinge viel Aufsehen erregen. Und hier in Ostafrika läuft alles reibungslos und ruhig."
Was Pecos berichtet, beschädigt den Ruf des UNHCR: Denn er behauptet, dass beim Resettlement nicht Bedürftigkeit über den Schutz von Flüchtlingen entscheidet, sondern Geld.

Die Entscheidung, wer auf den begehrten Resettlement-Listen landet, liegt bei Mitarbeitern des UNHCR. Die Chance, einen Platz zu ergattern, ist rein rechnerisch bei unter 0,1 Prozent.

Eine Chance bekommt, wer zahlt

Edward macht aus dieser Lotterie ein Geschäft. Bei ihm gewinnt, wer zahlt. Er erzählt freimütig: "Ich kann dafür sorgen, dass Menschen gegen Geld nach Europa gebracht werden und der UNHCR daran verdient. Denn ich bin bestens unter den Flüchtlingen vernetzt und beliebt. Ich suche Interessenten, die sich ein Resettlement leisten können, und bringe sie mit den zuständigen Personen beim UNHCR in Kontakt. Viele sind gleich bereit, für ihre Umsiedelung 7000 oder 5000 Dollar zu zahlen."
Edward nennt man in Kampala, der Hauptstadt von Uganda, einen Broker. Er bringt Kunden und Verkäufer zusammen: Flüchtlinge mit genügend Geld und korrupte Mitarbeiter des UNHCR. An dem Schmiergeld, etwa 2500 Dollar pro Person, verdient er rund ein Viertel. Sein richtiger Name darf nicht genannt werden.


Ich habe Edward über einen guten Freund kennengelernt. Trotzdem hat er lange gezögert, bevor er mir von seinen Verstrickungen erzählt hat. Es ist gefährlich für ihn, sein Geschäft offenzulegen, aber er hat nicht mehr viel zu verlieren: In ein paar Wochen wird er Uganda verlassen. Und manchmal hasst er sich selbst für das, was er tut.
Flüchtlinge aus dem Sudan in einem UNHCR-Registrierungszentrum in Uganda im Mai 2018. Menschen warten in einem Zelt.
Aus dem kostenlosen Umsiedlungsprogramm für bedürftige Menschen ist auch ein illegales Geschäft geworden. © imago images/ZUMA Press/Geovien So
Er erzählt, wie die Deals funktionieren: "Sobald mein Klient das Geld fürs Resettlement aufgetrieben hat, treffen wir uns und planen die weiteren Schritte. Ich rufe meine Kontaktperson beim UNHCR an. Wir vereinbaren ein Treffen in einem Hotel. Zu viert oder zu fünft diskutieren wir mit meinem Klienten über seinen Fall. Dann legt er das Geld in einem Umschlag auf den Tisch. Unsere Handys schalten wir zuvor aus, damit niemand das Gespräch mithört oder aufzeichnet. Es gibt keine Rechnung, keinen Beleg. Alles geschieht auf der Basis von Vertrauen. Wenn das Geld übergeben ist, geht mein Klient und wartet auf einen Anruf."

UNHCR: "Null Toleranz für Korruption"

Ich kann kaum glauben, was mir Edward erzählt, und frage nach Details. Seine Schilderungen sind äußerst präzise. Bevor ich den UNHCR konfrontiere, überprüfe ich das Pearl Highway Hotel, in dem Edward angeblich die Deals einfädelt. Ein Kellner bestätigt mir, dass er ihn kennt.
Konfrontiert mit den Vorwürfen heißt es beim UNHCR in Genf, dass man tatsächlich Hinweise auf Korruption im Resettlement-Programm in Uganda erhalten habe. Diese Fälle würden begutachtet und wo ausreichend Informationen zu Verfügung stünden, würde ermittelt, so die Sprecherin Cecile Pouilly.
In den Büros von Hilfsorganisationen und in den Lagern hängen Plakate mit der Aufschrift "Null Toleranz für Korruption". Seit 2018 werden neu ankommende Flüchtlinge in Uganda auch biometrisch erfasst. Die Zahl der Inspektoren, die internen Betrugsmeldungen nachgehen, hat sich in den letzten fünf Jahren von 13 auf 26 verdoppelt. Allerdings auch die Zahl der Anzeigen.
Auf einem Blatt Papier zeichnet Edward auf, wie der Betrug weitergeht, wenn das Treffen mit seinen Kontaktleuten beim UNHCR stattgefunden hat. Er sagt: "Es kann drei, vier, sechs Monate dauern, bis meine Klienten den Rückruf erhalten. Währenddessen arbeiten wir an ihrem Dossier. Wir erfinden Krankheiten, unter denen mein Klient leiden könnte. Zum Beispiel spezielle Rückenbeschwerden, die in Uganda nicht behandelt werden können. Genitalverletzungen infolge einer Vergewaltigung. Für ein gefälschtes Attest bekommt ein Arzt oft 150 Euro."

Schweigen aus Angst vor Gewalt

Die Deals funktionieren aber nicht immer. Es gibt so wenig Plätze, dass nicht alle, die gezahlt haben, tatsächlich umgesiedelt werden. Aber fast niemand wagt es, seinen Broker oder den UNHCR öffentlich anzukreiden. Alle haben Angst vor Einschüchterung und Gewalt.
Mit Ausnahme von Amissa. Sie zog gegen einen Mitarbeiter des UNHCR vor Gericht.

Als ihr Mann, ein Geograf in einer Goldmine, ermordet wurde und die Soldaten auch sie überfielen und vergewaltigten, floh sie mit ihren beiden Töchtern nach Uganda. Von einer Freundin wusste sie, dass eine Umsiedlung aus Kampala möglich ist. Sie sagt: "Ich habe eine Wohnung in Kampala angemietet. Innerhalb eines Jahres, meinte meine Freundin, sei ich in Neuseeland. Ich habe einen Bekannten kontaktiert, der für den UNHCR als Übersetzer arbeitet. Der hat für meinen Resettlement-Antrag Geld verlangt. Erst viel später habe ich dann herausgefunden, dass Resettlement in Wirklichkeit gratis ist, und forderte mein Geld zurück."

Entführung der Tochter als Druckmittel

Übersetzer, die bei den entscheidenden Auswahlgesprächen fürs Resettlement mit UNHCR-Mitarbeitern zusammenarbeiten, stehen oft im Verdacht, als Broker Geld dazuzuverdienen. 900 Dollar habe Amissa ihrem Bekannten und seiner Komplizin, auch sie Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, für ihre Umsiedlung bezahlt. Weil ihr die Komplizin aber nur 200 Dollar zurückgab, zeigte sie die beiden an. Im April 2019 kam zu einem Prozess vor Gericht.
Amissa blättert durch die Akten und erzählt dabei: "Ich habe alles gegeben, um den Prozess zu gewinnen. Ich habe SMS zwischen dem Täter und mir auf meinem Telefon vorgelegt, ich hatte auch eine Zeugin dabei. Ein paar Wochen später ist meine Tochter verschwunden. Sie wurde auf einem Bahngleis ausgesetzt und schließlich in einer Kirche gefunden. Eine Frau aus dem Viertel hat sie entführt."
Amissa glaubt, dass man sie zum Schweigen bringen wollte. Nach drei Verhandlungstagen ließ sie die Klage fallen. Kurz danach sei sie von einer UNHCR-Mitarbeiterin als Verräterin bezeichnet worden. Am schlimmsten aber sei der Druck aus der Flüchtlings-Community, allen voran durch die, die mit dem UNHCR kooperieren.
"Nach der Arbeit laufen diese Leute durchs Viertel und behaupten, ich werde dir helfen, gib mir dieses, gib mir jenes", sagt sie. "Wenn du sie aber anklagst, sagen sie: Ich werde dich töten. Du wirst nie und nimmer umgesiedelt werden."

Umgesiedelter UNHCR-Mitarbeiter schiebt Schuld auf andere

Im Kongo hatte Amissa ein gutes Leben. Jetzt lebt sie in einem der übelsten Viertel Kampalas. Beinahe alles hat sie verloren. Der Übersetzer dagegen, er soll hier Paul heißen, wurde kurz nach dem Prozess überraschend nach Schweden umgesiedelt. Als Notfall. Über das Resettlement-Programm.
Heute lebt Paul in einer großzügigen Wohnung am Rand von Göteborg: Flachbildfernseher, Ledersofa, eine Haushälterin kümmert sich um die beiden Kinder. Er ist dick geworden, seine Frau kocht gerade in der angrenzenden Küche. Paul sagt, er sei umgesiedelt worden, weil seine Frau gesundheitliche Probleme hatte. Dass er überhaupt spricht, begründet er damit, dass auch er Korruption beim UNHCR vermute, an der er aber nicht beteiligt gewesen sei.
Er sagt: "Es gibt ein Problem mit sogenannten Brokern. Die stehen in direktem Kontakt mit einigen UNHCR-Mitarbeitern. Ich habe Broker gesehen, die Menschen dazu brachten, ihre Häuser zu verkaufen, um sie an den UNHCR zu vermitteln. Und ich habe immer wieder für Flüchtlinge übersetzt, die ins Büro kamen und weinten, weil sie von korrupten Mitarbeitern betrogen wurden. Die um Resettlement baten und dann herausfanden, dass bereits jemand in ihrem Namen umgesiedelt wurde. Aber sie wissen nicht, wer."

Whistleblower besser schützen

Geflüchtete in Uganda, mit denen ich gesprochen habe, bestätigen das. Andere erzählen auch, wie sich Paul in Uganda als Broker die Taschen füllte. Darauf angesprochen – bestreitet Paul das: "Einmal kam ein Typ mit 20.000 Dollar in mein Haus", sagt er. "Es war extrem verlockend für mich, das Geld anzunehmen. Wenn ich gewusst hätte, wie ich ihm einen Platz auf der Resettlement-Liste verschaffen könnte, hätte ich das getan. Weil ich nicht gerne auf meinen Anteil von 5000 Dollar verzichtet hätte. Stattdessen habe ich ihn nur darüber aufgeklärt, dass Resettlement gratis ist."


Das Resettlement Programm im UNHCR existiert seit 60 Jahren – immer wieder in der Vergangenheit hatte die Organisation mit Korruption in diesem Bereich zu kämpfen. Frank Montil, ehemaliger Direktor der internen UN-Ermittlungsbehörde OIOS, hat 2001 in Kenia ein Betrügernetzwerk aufgedeckt. Er kritisiert, Whistleblower würden nicht ausreichend geschützt und der UNHCR stehe so sehr unter Druck, dass er sich in erster Linie um sein Image und sein Spendenaufkommen sorge.
Frauen und Kinder sitzen neben Zelten im Schatten auf dem Boden.
Kongolesische Flüchtlinge in einem UNHCR-Lager in Uganda. Auf 70 Millionen Flüchtlinge kommen rund 50.000 Umsiedlungen pro Jahr.© picture alliance/dpa/BSIP
Paul, der ehemalige Übersetzter, sieht das Hauptproblem darin, dass man beim UNHCR zu schlecht verdiene: "Wenn jemand kommt und dich korrumpieren will, wie soll man da widerstehen?", fragt er.
"Auch die lokalen Mitarbeiter verdienen gerade mal 1500 Dollar pro Monat. Weil sie ein Büro beim UNHCR haben und dicke Autos fahren, denken alle im Familienkreis, sie seien jetzt reich und wollen etwas davon abhaben. Aber die meisten kommen aus armen Verhältnissen und können die Erwartungen gar nicht erfüllen."

UNHCR bestreitet Vorwürfe

Das Hauptquartier des UNHCR in Kampala liegt hinter Stacheldraht und weiß lackierten Eisentoren. Die Frau, die mit Paul zusammengearbeitet hat und der auch der Broker Edward vorwirft, mit ihm zu kooperieren, streicht sich selbstbewusst den Blazer glatt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie für den UNHCR in Kampala. Sie spricht gelassen, bis sie mit den Vorwürfen konfrontiert wird. Dann jedoch explodiert sie: "Vor kurzem hab ich Übersetzer trainiert. Einer erwähnte das Wort Broker. Da habe ich das zum ersten mal gehört. Broker, Blocker. Wer blockt hier wen?"
Sie gibt sich ahnungslos und erzählt leidenschaftlich, was der UNHCR alles gegen Korruption tue. Aus Genf klingt das ganz ähnlich. Dort verweist man auf den Verhaltenskodex, den alle Mitarbeiter, auch die von Partnerorganisationen, unterschreiben. "Der code of conduct spezifiziert, dass niemand seine Position gegenüber Schutzbefohlenen missbrauchen darf, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen", schreibt die Sprecherin.
Für Edward spielt all das keine Rolle mehr. Während Amissa und Pecos weiter in Uganda verharren, steigt er im Dezember 2019 in ein Flugzeug und fliegt seinem neuen Leben entgegen. Seine Frau lebt bereits in den USA. Dem UNHCR sei Dank.
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