Korruptionsaffäre

Die Mafia-Manieren des französischen Milliardärs Serge Dassault

Serge Dassault, Chairman and CEO of Dassault Group and French Senator attends the traditional military parade as part of the Bastille Day celebrations in Paris, France, 14 July 2014.
Serge Dassault soll Wahlerfolge in Corbeil-Essonnes nach Mafia-Manier erkauft haben. © picture alliance / dpa / EPA / ETIENNE LAURENT / POOL MAXPPP OUT
Von Margit Hillmann · 07.06.2015
Einst galt die französische Arbeiterstadt Corbeil-Essonnes als Hochburg der Kommunistischen Partei, bis Mitte der 1990er-Jahre ein konservativer Politiker das Rathaus eroberte: Serge Dassault. Der soll sich mithilfe übler Machenschaften Wahlerfolge erkauft haben.
Ich fahre nach Corbeil-Essonnes, 40 Kilometer von Paris. Die kleine Arbeiterstadt wurde 14 Jahre von einem prominenten Bürgermeister regiert: dem viertreichsten Mann Frankreichs, Flugzeugbauer Serge Dassault. Ein ehrgeiziger Bürgermeister, der das Ruder fest in der Hand hält. - Bis sein Gegenspieler von der Kommunistischen Partei in Corbeil-Essonnes die Justiz einschaltet. Er ist felsenfest überzeugt, dass der Rüstungsindustrielle die Kommunalwahlen von 2008 nur gewonnen hat, weil er reihenweise Wähler in der verarmten Plattenbausiedlung am Stadtrand bestochen hat. Es ist der Auftakt einer aberwitzigen Korruptionsaffäre, die bis heute nicht aufgeklärt ist.
Ich beginne mit meinen Recherchen in les Tarterêts, der Stadtteil, in dem sich der Stimmenkauf abgespielt haben soll. Er liegt auf einem Hügel, umgeben von Brachland und Industriegebiet. Klotzige Beton-Wohnsilos ragen fünfzehn Etagen hoch in den knallblauen Himmel.
Heute ist Wochenmarkt. Zwischen den Türmen, auf der Avenue Léon Blum, stauen sich Autos. Von überall her strömen Leute auf den Marktplatz.
Ich bahne mir einen Weg, vorbei an Ständen mit exotischem Obst und Gemüse, Halal-Fleisch, farbenfrohen Baumwollhemden aus Senegal und blitzenden Couscoussièren aus dem Maghreb. Die Händler und ihre Kunden sprechen vor allem Arabisch und afrikanische Sprachen. Nirgendwo sehe ich Weiße europäischer Herkunft.
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Der Markt von Tarterets© Deutschlandradio / Margit Hillmann
Plötzlich stoppt neben mir ein Auto mit zwei Männern. Der Beifahrer steigt aus, Anfang vierzig, breites Lächeln.
"Vous allez bien?..."
Er begrüßt mich wie eine gute Bekannte. Ich sehe ihn zum ersten Mal.
Rachid El Mahdi: "Müssen Sie Interviews machen? Noch immer das gleiche Thema? Die Brände, das Feuer in den Schulen und so? Ich wohne hier. Seit 26 Jahren. Ich kenne hier alles."
Seit ein paar Tagen tauchen Journalisten im Viertel auf, weil es in der Plattenbausiedlung zwei Brandanschläge gegeben hat: nachts, auf die neue Stadtmediathek und eine Schule. Er hält mir kurz einen Presseausweis unter die Nase. Rachid ist sein Vorname. Er bietet mir seine Dienste als ortskundiger "Fixer" an – Journalisten-Jargon für Mittelsmänner bei Reportagen auf gefährlichem Terrain. Plötzlich redet er über Serge Dassault.
"Sehen Sie, was hier passiert - brennende Schulen und all das - die Leute, die das gemacht haben, sind wie tollwütige Hunde. Das ist das System Dassault, das kennt hier jeder. Die haben sich in den letzten 15 Jahren an enorme Geldsummen gewöhnt. Nicht tausend oder zweitausend Euro – 1,7 Millionen, zwei Millionen! Und jetzt beschmutzen sie den Ruf der Stadt und von Senator Serge Dassault."
Rachid zeigt entschuldigend auf sein Telefon, steigt wieder ins Auto.
Ich bin auf einem Supermarktparkplatz mit Martine Soavi und Laurent Infray verabredet. Die Beiden sind vom Verein "Agir pour les Tarterêts" - Handeln für "les Tarterêts". Die 2010 gegründete Stadtteil-Initiative organisiert Bürger-Debatten und Protestaktionen gegen die sozialen Missstände und das Gewaltklima in der Plattenbausiedlung.
Sie schlagen vor, dass wir ins Vereinsbüro gehen. Unterwegs kommt uns auf dem Bürgersteig ein hagerer Mann, seine kleine Tochter an der Hand, entgegen.
Sein Ältester geht in die Schule, die sie nachts in Brand gesteckt haben. Dieselbe Schule, die auch Laurent Infrays Kinder besuchen. Ob er oder Martine Neuigkeiten haben, erkundigt er sich. Die Drei sind sicher, dass die Rabatteurs – die Stimmen-Eintreiber - dahinter stecken. Männer, die für Dassault in Les Tarterêts Wählerstimmen gekauft haben sollen. Da sind noch Rechnungen offen, die erpressen Dassault, vermuten sie.
"Es reicht uns, wir haben die Schnauze gestrichen voll vom System. Ich wohne hier, war im Viertel Fußballtrainer. Ich kenne die Kleinen, die Jugendlichen und ihre Eltern - alle Generationen. Alle haben die Nase voll von deren System. Alle warten nur auf eins: dass die endlich abhauen!"
Das Vereinsbüro ist ein karger, dunkler Raum im Keller eines alten Wohnblocks. Wir setzen uns an den langen Tisch in der Raummitte. Martine Soavi kennt Serge Dassault noch als glücklosen Kandidaten, der Ende der 70er-Jahre zum ersten Mal in Corbeil-Essonnes angetreten ist, um die kommunistische Hochburg zu erobern. Schon damals scheut der Flugzeugbauer weder Kosten noch Aufwand, die vielen Wähler der Tarterêts-Siedlung für sich zu gewinnen.
Martine Soavi: "Du bist hier im Viertel und plötzlich kommt ein Hubschrauber, landet auf einem der Wohntürme und wirft von da oben Unmengen von Mützen, Ballons, Süßigkeiten und so weiter herunter. Für die Leute hier war er der Milliardär, der sie mit Geschenken überhäuft. Immer wenn er kam, hat er verteilt. Er wurde hier wie ein König empfangen. Ich habe gesehen, wie sie alle ankamen: Monsieur Dassault, Monsieur Dassault! Ihm sogar Kuchen gebracht haben! Er war ihr Vater. Er war der Vater von Les Tarterêts."
Je 50 Euro bis 200 Euro eine Wählerstimme
Wann Serge Dassault begonnen hat, den Viertelbewohnern systematisch Wählerstimmen abzukaufen – können sie nicht genau sagen. Aber spätestens 2008, als als der kommunistische Gegenkandidat gute Chancen hatte, Dassault den Bürgermeisterposten abzunehmen, hört auch Martine Soavi von den Stimmen-Deals.
Soavi: "Die Leute haben geredet von 50 Euro die Stimme, 200 Euro die Stimme. Und je näher der Wahltag rückte, desto höher der Preis. Und dann gab es ja auch die so genannten Versprechen: 'Wenn du dafür sorgst, dass alle Jugendliche im Viertel ihre Stimmen geben...' - Dann ging es nicht mehr um hunderte Euro, sondern um sehr hohe Summen. Unglaublich hohe Geldbeträge!"
Den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zufolge sollen mindestens sieben Millionen Euro geflossen sein. Zuerst für die Wiederwahl des Flugzeugbauers, dann für die Wahl seines Strohmanns, Jean-Pierre Bechter. Der sitzt noch immer im Rathaus, sagt Laurent Infray und schüttelt den Kopf. Er findet es schlimm, dass Dassaults zynisches Kalkül aufgegangen ist. Und er ist enttäuscht, dass Leute aus Les Tarterêts bereit waren, ihre Stimme zu verkaufen. Aber wenn der Kühlschrank leer ist?
Infray: "Wenn Familienangehörige arbeitslos sind, Mietschulden da sind – wenn dann jemand Geld anbietet oder vorschlägt ihre Schulden zu übernehmen, zum Beispiel die Mietschulden? Wen die wählen, ist doch klar."
Natürlich will ich auch den Protagonisten der Affäre treffen. Doch Dassault schirmt sich ab. Er gibt keine Interviews, vermeidet öffentliche Auftritte, von denen die Presse Wind bekommen könnte. Und wenn ich versuche, ihn in Corbeil-Essonnes zu erwischen? Der Industrieboss, der trotz der schweren Korruptionsvorwürde 2011 in den französischen Senat gewählt wurde, soll wieder öfter aus Paris herüberkommen, um im Rathaus nach dem Rechten zu sehen. Aber vorher will ich herausbekommen, wie die Stimmeneintreiber angeheuert und bezahlt wurden. Ich erfahre es aus erster Hand: von Mamadou Kébé, angeklagt wegen Beihilfe zum Stimmenkauf, Nötigung und versuchter Erpressung. Er hat Anfang 2014 vor den Untersuchungsrichtern ausgesagt und ist so etwas wie ein Kronzeuge der Anklage.
Wir vereinbaren ein Treffen in meiner Wohnung in Paris.
Vor der Tür steht ein Mann in einer dicken Daunenjacke: groß, dunkle Haut und feine, gleichmäßige Gesichtszüge. Mamadou Kébé hat eine gute Stunde Verspätung. "Anwalt, hat gedauert", entschuldigt er sich einsilbig. Kébé ist nur auf Durchreise, er wohnt inzwischen in Brüssel.
Mamadou Kébé: "Brüssel hat mir gefallen, weil es ein ruhiger Ort ist. Nach Les Tarterêts komme ich nur, um meine Familie zu sehen. Sonst treffe ich da kaum jemanden. Wenn ich draußen eine Runde drehe, sage ich den Leuten, die ich mag, Guten Tag. Den anderen, die ich nicht mag, da sag ich nichts."
Kébés Art zu sagen, dass er nur noch wenige Freunde in der Tarterêts-Siedlung hat. (Für die Einen ist er der Gauner, der sich und die Bewohner der Plattenbausiedlung an das System Dassault verkauft hat. Andere lästern: Kébé gäbe nicht einmal seinen armen Eltern etwas von seinem vielen Geld ab. Er presst die Lippen zusammen. Über seine Familie – seine Eltern und seine fünfzehn Geschwister - will Kébé nicht sprechen.)
2009, als Dassault seinen Strohmann ins Rennen schickt, bekommt Mamadou Kébé einen Anruf von einem Rathausmitarbeiter. Ob er beim Wahlkampf für Bechter dabei sein will? Er ist sofort einverstanden.
Kébé: "Wir wissen, was im Viertel los ist, dass da viel Geld für uns rausspringt. Alle haben davon geträumt, dass sie angerufen werden. Die hätten sich alle darum geschlagen."
Mamadou Kébé sammelt mit einer kleinen Gruppe in ihren Wohnblöcken Stimmen für Jean-Pierre Bechter. Sie bieten den Leuten Geld an, oder kleine Dienste: eine neue Wohnung besorgen, einen Job oder einen Führerschein, bezahlt vom Rathaus.
Im Gegenzug versprechen die Wähler, ihr Kreuz beim Kandidaten Dassaults zu setzen.
Kébé spricht schwerfällig. Wie grobe Brocken fallen die kurzen, ungelenken Sätze aus seinem Mund. Aber in Les Tarterets – besonders bei der Jugend – musste er nicht viele Worte machen.
Kébé: "Wir sagen ihnen: Wählt Dassault! Sie sagen: Ja. Meistens ist das den Leuten scheißegal. Die wählen nur, weil es ihnen gesagt wird. Vor allem, wenn wir das den Jüngeren sagen. Dann machen die das, aus Respekt für uns."
Mamadou Kébé wird auch für die Wahlen 2010 engagiert, sein Team sogar aufgestockt. Ohne Stimmen-Eintreiber in der Tarterets-Siedlung wäre Dassaults rechte Hand, Jean-Pierre Bechter, nie Bürgermeister geworden, glaubt er.
Und wie lief das mit dem Geld?
Kébé: "Wir haben Daussault persönlich getroffen. Und dann haben wir mit ihm diskutiert. Das ist verhandelbar. Ich meine, wenn wir einen Preis sagen, verhandelt er immer, aber er gibt trotzdem. - Weil er unbedingt gewinnen will."
450.000 Euro cash gibt es für die erste Kampagne. Der Stimmen-Eintreiber erzählt, dass er sie in einem großen Umschlag im Rathaus abgeholt hat. Für ihren zweiten Einsatz mit verstärktem Team waren laut Kébé 1,7 Millionen mit Dassault abgemacht: 1,2 sofort, 500.000 Euro später. Doch das Geld lässt auf sich warten.
Kébé: "Er hat immer nur gesagt, das braucht Zeit. Wir hatten mehrere Verabredungen. Das ist in Etappen abgelaufen."
Sechs Monate nach der Wahl Bechters wird der Stimmen-Eintreiber nach Beirut im Libanon gelotst, bekommt in einem Hotel einen Umschlag überreicht: drei Schecks über jeweils 400.000 Euro, die er – alles ist organisiert - bei der Filiale der Bank Société General in Beirut einlöst.
Kébé: "Aber es fehlte eben ein Teil vom Geld. Bis heute hat Dassault den nicht bezahlt."
Auf Fatha Hou wird auf offener Straße geschossen
Kébés Blick verfinstert sich. Er fühlt sich noch immer hintergangen. Vielleicht wäre für ihn alles glatt gelaufen, hätte er nicht Serge Dassault und seine Familie per Telefon unter Druck gesetzt, um das restliche Geld zu bekommen. Sie erstatten Anzeige. Als er wegen der Erpressungsvorwürfe verhört wird, packt er aus.
Kébé zieht den Reißverschluss seiner Jacke zu. Er muss los, seine belgischen Freunde, die ihn begleitet haben, warten auf der Champs-Elysée.
Er kommt noch mal auf Dassault zurück. Der Alte – so wird er im Getto genannt - sei eher ein lustiger und netter Typ. Und dann hat er auch in der Tarterets-Siedlung einen Fußballplatz bezahlt, und Kinder in die Ferien geschickt. Aber die Wahrheit ist die Wahrheit, sagt Kébé. Und wahr ist auch, dass er Dassault und sein Geld heute fürchtet.
Kébé: "Ich habe meinem Anwalt gesagt: Dem traue ich zu, dass er einen Richter bezahlt. Mein Anwalt hat mir erklärt, dass das nicht geht. Aber vielleicht bezahlt er Polizisten, weiß nicht, damit die mich ausschalten. Oder er setzt sonst jemand auf mich an, keine Ahnung."
Im Februar 2013 wird auf offener Straße im Zentrum von Corbeil-Essonnes auf einen 32-Jährigen aus Les Tarterêts geschossen. Zwei Kugeln treffen den ehemaligen Amateurboxer, er ist lebensgefährlich verletzt. Tatverdächtig ist ein gewisser Younès Bounouara, bekannt als Dassaults Handlanger und Mann fürs Grobe. Inzwischen sitzt er wegen versuchten Mordes in Untersuchungshaft. Sein Opfer, Fatha Hou, hat Dassault und Bechter wegen "Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung" verklagt. Ich vereinbare einen Termin mit der Pariser Anwältin, die ihn vertritt.
Marie Dosé ist eine kleine, quirlige Frau, Anfang vierzig. Die Anwältin holt mich in ihr Büro, setzt sich hinter ihren wuchtigen Schreibtisch. "Eine Sekunde", sagt sie, tippt noch schnell einen Rest Text in ihr Notebook. Dann setzt sie ihre Brille ab. Im Fall Fatah Hou geht es um zwei verschiedene Straftaten, sagt sie, aber das Motiv sei identisch: Verhindern, dass Fatah Hou redet und das Korruptionssystem in Corbeil-Essonnes auffliegt..
Dosé: "Fatah Hou sagt, dass Younès Bounouara auf ihn geschossen hat, weil er glaubte, dass mein Mandant der Presse Informationen über das System zugespielt habe. Denn Younes Bounouara hat viel zu verlieren hat, er hat von Dassault enorm viel Geld bekommen. Und die zweite Affäre: Serge Dassault und Bürgermeister Bechter wollten dafür sorgen, dass Fatah Hou Frankreich verlässt und nach Marokko reist. Ganz offensichtlich, damit er dort verhaftet werden kann, sie ihm juristisch etwas anhängen können."
Younès Bounouara – das finden die Ermittler der Justiz heraus - hat knapp zwei Millionen Euro von Dassault bekommen.
Auch für die Existenz eines Kidnapping-Plan hat die Staatsanwaltschaft eindeutige Hinweise: Dassault und Bechter sollen den stellvertretenden Botschafter von Marokko darauf angesetzt haben, "die Halunken, die den Flugzeugbauer erpressen", in seinem Land festzusetzen.
Fatah Hou sei kein Erpresser, sondern ein Opfer von Dassaults Machenschaften, körperlich und psychisch fürs Leben gezeichnet, verteidigt Marie Dosé ihren Mandanten
Dosé: "Fatah Hou hat nie irgend etwas von Dassault bekommen. Die Justiz hat ihn nicht angeklagt, nie beschuldigt. Aber selbst die, die nicht vom System D profitiert haben, wurden in die Streitereien ums Geld hineingezogen. Dassaults Geld hat die ganze Tarteret-Siedlung verdorben. Sogar Vereine haben falsche Subventionen bekommen. Es ist ein immenses Korruptionsnetz. Und was wirklich bemerkenswert ist: Monsieur Dassault steht im Senat am Rednerpult und gibt ganz Frankreich Lektionen, was sich in der Republik geziemt. Wunderbar! Wir sind hier wirklich in einem großartigen Land!"
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Wohnblöcke von Tarterents© Deutschlandradio / Margit Hillmann
Ich habe inzwischen mehrere Veranstaltungen in Corbeil-Essonnes besucht, von denen es hieß, dass der Ex-Bürgermeister dort aufkreuzen könnte. Am 8. Mai, dem nationalen Feiertag der deutschen Kapitulation, geht meine Rechnung endlich auf.
Der Himmel über Corbeil-Essonnes ist grau. Kräftige Windböen fegen über den kleinen Platz, auf dem das Kriegsdenkmal der Stadt steht. Knapp 150 Menschen haben sich zur jährlichen Gedenkfeier der Kapitulation Nazideutschlands versammelt. In der ersten Reihe stehen der Präfekt des Departements in dunkelblauer Uniform und mit blendend weißen Handschuhen, der Polizeichef von Corbeil-Essonnes und ein knappes Dutzend Politiker in Amt und Würden, zu erkennen an ihren blau-weiß-roten Schärpen, die sie quer über die Brust tragen.
Wie aus dem Nichts taucht vor ihnen ein alter, leicht gebeugter Mann auf. Serge Dassault, die Hände in die Taschen seines kamelfarbenen Regenmantels versenkt, die dunkelbraune Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen. Einen Bodyguard im Schlepptau tippelt der 89-Jährige an seinen Ehrenplatz, genau in der Mitte der ersten Reihe, nimmt seine Mütze ab.
Die Leute recken ihre Hälse, tuscheln. Sie haben ihren Ex-Bürgermeister und Senatsabgeordneten zuletzt auf den Titelseiten der Presse gesehen.
Anfang April 2014, als die Staatsanwaltschaft Klage gegen Serge Dassault erhoben hat: wegen Korruption und illegaler Wahlkampffinanzierung.
Bechter ist auch da, hilft dem Senator aus dem Mantel. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt auch ihn, tief in die Korruptionsaffäre verstrickt zu sein, hat den Bürgermeister und Mitglieder seines Stadtrats als Komplizen angeklagt. Der Bürgermeister glättet sein vom Wind zerzaustes schütteres Haar und steigt auf die kleine Rednertribüne,
Er wendet sich mit seiner Rede immer wieder direkt an Serge Dassault: "Monsieur le Senateur" nennt er ihn salbungsvoll. Die ganze Zeremonie hindurch hofiert und umgarnt der angeklagte Bürgermeister Bechter den angeklagten Exbürgermeister Dassault. Doch auf der vom Rathaus organisierten Gedenkfeier stört sich niemand daran.
Frau 1: "Der Bürgermeister hat eine sehr schöne Rede gehalten. Es war wunderschön. Ganz hervorragend!"
Frau 2: "Ich habe Monsieur Dassault schon 2001 im Wahlkampf unterstützt. Wir mögen ihn hier sehr. Wir sind ihm sehr dankbar für all die Dinge, die er für Corbeil-Essonnes getan hat. Ich hab besonders viel Respekt vor ihm, weil die Reichen sich normalerweise nicht Bohne für die Armen interessieren. Monsieur Dassault ist anders. Und die Leute können so oft erzählen wie sie wollen, dass er Wählerstimmen gekauft hat und so weiter – ich glaube nicht an diese Geschichten!"
Nach der Zeremonie mischt sich Dassault unter die Leute. Flankiert von seinem Bodyguard, von Bürgermeister Bechter und zwei Frauen in den Vierzigern schüttelt der alte Industrie-Tycoon die vielen Hände, die sich ihm entgegenstrecken.
Doch aus dem Augenwinkel hat er längst mein Mikrofon wahrgenommen. Seine Pressesfrau kommt herüber, fragt, wer ich bin und was ich will.
Keine Chance, dass Dassault einem Interview zur Korruptionsaffäre zustimmt.
Ich improvisiere: Ob ich mit dem Senator über seine persönlichen Erinnerungen an das Kriegsende sprechen kann? Zwei Minuten später habe ich die Antwort: Dassault ist einverstanden.
Dessault bestreitet alle Korruptionsvorwürfe
Wir gehen ins Kulturzentrum nebenan. In einem schmalen Seitenflur gibt es zwei Büroräume.
Abgeschlossen. Die Pressesprecherin will die Schlüssel holen. Doch Dassaults direkter Blick fixiert mich schon.
Ich soll loslegen, hier im Flur. Der alte Mann ist knappe ein Meter 65 groß. Sein leicht glänzendes Gesicht hat für einen Mann seines Alters wenig Falten; seine Gesichtszüge sind eher banal, das Minenspiel mager. Nur Dassaults flinke, neugierige Augen verraten, dass er voll da ist. 18 Jahre alt war er 1944, als Paris befreit wurde. Denkt er noch oft an diese Zeit?
Serge Dassault: "So langsam liegt die Zeit lange hinter einem. Trotzdem ist sie nah. Wegen der ganzen Erinnerungen: 1944/45 waren schwierige Jahre."
Kein geschliffenes, elegantes Bildungsbürger-Französisch - Dassault spricht schnörkelose Umgangssprache. Er wirkt wie ein harmloser alter Mann von nebenan - weder autoritär, noch egozentrisch. Doch bevor ich ihm mit Fragen über Corbeil-Essonnes auf die Pelle rücken kann... heult hinter der verschlossenen Bürotür ein Staubsauger auf.
Der Interview-Profi kichert, setzt zweimal neu an. Aber schließlich spielen Daussaults müde Beine nicht mehr mit. Wir brechen ab. "Vielleicht ergibt sich noch eine andere Gelegenheit?!" versuche ich eine lose Verabredung herauszuschlagen. Doch sein Bodyguard und die beiden Frauen haben den alten Mann schon wieder in ihre Mitte genommen, begleiten ihn zum Ausgang.
Serge Dassault bestreitet bis heute alle Korruptionsvorwürfe. "Völlig idiotisch, alles Lügner", sagt ausgerechnet er.
Die Verteidigungsstrategie des Angeklagten und seiner Anwälte ist einfach: Der Milliardär habe Einwohnern des Migrantenviertel zwar hin und wieder mit ein wenig Geld ausgeholfen. - Aber nur, weil er ein großes Herz habe. Das habe nichts mit den Wahlen zu tun gehabt. Der Stimmenkauf sei pure Erfindung, ausgedacht von einer Handvoll kleiner Ganoven, die ihn erpressen wollten.
Seit 2008 beschäftigt sich die französische Justiz mit dem Stimmenkauf in Corbeil-Essonnes. Aber es vergehen fünf Jahre, bis die Staatsanwaltschaft endlich die Aufhebung der parlamentarischen Immunität Dassaults beim Senat beantragt.
Die Untersuchungsrichter wollen Häuser und Büros des Flugzeugbauers durchsuchen lassen und ihn ins Kreuzverhör nehmen. Doch Dassaults Senatoren-Kollegen stellen sich quer.
Der französische Senat logiert im herrschaftlichen Palais du Luxembourg, Ein Schloss aus dem 17. Jahrhundert in der Rue de Vaugirard. Nach der Sicherheitsschleuse durchquere ich einen großen Innenhof, weiße Marmorsäle mit riesigen Fenstern zum angrenzenden Jardin du Luxembourg. Der prunkvolle Plenarsaal des Senats befindet sich unter einer großen Kuppel.
Gespräch mit Senator Jean Desessard über den "Fall Dassault"
Von der Pressetribüne herab sehe ich Dassault im rot samtenen Senatorensessel sitzen. Ich habe ihn noch einmal schriftlich um einen Interviewtermin gebeten und – wie erwartet - eine Absage bekommen. Aber ich bin nicht da, um mit Serge Dassault zu sprechen, sondern über den "Fall Dassault", mit Senator Jean Desessard.
Senator Desessard sitzt noch in der "buvette". Eine Art Senats-Kantine: wuchtige Clubmöbel auf poliertem Parkett, ein Kamin aus rosa Marmor, an den Wänden hängen kostbare Wandteppiche und Gemälde.
Der Senator ist Mitglied der Grünen und vertritt seine Partei im Senats-Gremium, das über die Aufhebung der Abgeordneten-Immunität entscheidet. Sechsundzwanzig Senatoren, die geheim abstimmen.
Ende 2013, im zweiten Anlauf, ist die Sache eigentlich geritzt, erinnert sich Senator Desessard. Der wachsende Druck der Öffentlichkeit saß den Senatoren im Nacken.
Jean Desessard: "Wir haben die Stimmen der Sozialisten und der Grünen zusammengezählt. Normalerweise hätten wir mit einer Stimme Mehrheit die Immunität Dassaults aufheben können. Aber dann - fehlte eine Stimme aus unserer Gruppe."
Erst nachdem der Senatspräsident die Regeln ändert, die Senatoren namentlich abstimmen müssen, wird Dassaults Immunität im Februar 2014 aufgehoben.
Dessesard schaut auf seine Armbanduhr. Ich frage weiter: Serge Dassault ist inzwischen angeklagt, wegen Korruption und "Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung". Warum ist er noch immer Senator?
Desessard: "Niemand hat die Möglichkeit, einen Senator davon abzuhalten in den Senat zu kommen!"
Hat irgend jemand – einer Ihrer Senatoren-Kollegen oder vielleicht Sie selbst - öffentlich gefordert, dass er geht?
Desessard: "Das wurde nicht verlangt."
Warum nicht?
Desessard: "Stimmt, die Frage könnte man sich stellen."
Nicht ein Politiker, nicht die Presse, niemand fordert, dass Dassault sein Mandat als Senator niederlegt. Denn in der französischen Politik gilt bis heute: "unschuldig bis zur rechtskräftigen Verurteilung". Darauf beruft sich auch der grüne Senator.
Desessard: "Tatsächlich haben wir hier nicht diese politische Kultur, nicht die Tradition, jemanden zum Rücktritt zu drängen, weil wegen schwerwiegender Straftaten gegen ihn ermittelt wird. Es ist wahr, dass man darüber nachdenken könnte."
Anfang Februar 2015 hat die französische Justiz ein Urteil in dem Berufungsverfahren gefällt, mit dem Dassaults Anwälte die Klagen wegen Stimmenkauf und illegaler Wahlkampffinanzierung kippen wollen. Der Großindustrielle, entschieden die Richter, kann nicht mehr für das Wahljahr 2008 belangt werden. Die Staatsanwaltschaft habe es versäumt, das Ermittlungsverfahren fristgerecht zu eröffnen. Dassaults Anwälte haben inzwischen angekündigt, die Strafverfolgung für die Wahljahre 2009 und 2010 aus dem gleichen Grund anzufechten.
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