Korrespondenzen einer uneitlen Gräfin

02.12.2009
"Merkwürdig ist, dass Erwachsene Kinder nie verstehen." Das schreibt die 16-jährige Marion Dönhoff im August 1926 in ihr Tagebuch – und das sind die ersten ihrer Zeilen, die Friedrich Dönhoff und Irene Brauer für ihr Buch ausgewählt haben.
Zu den letzten Sätzen, 270 Seiten später, gehören: "Als Kind habe ich gebetet: 'Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm' – jetzt kann ich einfach sagen: 'Ich bin schon da.'" Das schreibt sie, im Februar 2000, an einen Astronomen in Jena, der von ihm entdeckte Himmelskörper nach Widerständlern gegen Hitler benannte – und gerade einen auf Marion Gräfin Dönhoff getauft hatte.

55 Jahre vorher, am 14. Januar 1945, berichtet sie dem Altphilologen Walter F. Otto von "meinem Freund, dem Stern Betegeuze" – mit einem Radius von 228 Millionen Kilometern und einem Durchmesser, der drei Mal so lang ist "als die Entfernung" von der Sonne zur Erde: "Wie kann es einem da so erheblich erscheinen, was aus unserem komischen kleinen Planeten im Jahr 1945 geschieht".

Sieben Tage später wird sie sich auf ihren "braven Fuchs" setzen und sieben Wochen vom ostpreußischen Schloss Friedrichstein 1200 Kilometer nach Westfalen reiten – von wo aus ein halbes Jahrtausend zuvor die Dönhoffs gen Osten geritten waren. Auf dem komischen kleinen Planeten lebten ihre Freunde vom 20. Juli zu dieser Zeit nicht mehr ("Ich habe alle meine Freunde verloren").

Sie selbst lebte auf ihm seit 35 Jahren: geboren im wilhelminischen Kaiserreich, in dem die Mutter Palastdame der letzten Kaiserin war. Ein Foto zeigt die 19-Jährige in einem weißen Kittel Handarbeiten machen: Eine solch hausfrauliche Gräfin kommt in dem Buch sonst nicht mehr vor – und in ihrem Leben wohl auch nicht. Sie hat schon als junges Mädchen Automotoren zerlegt – schnelle Sportwagen werden ihr einziger Luxus bis ins hohe Alter bleiben. Sie hat nach der Haushaltsschule in Afrika auf Safari "einen klotzigen Leoparden" erlegt. Sie hat im Zweiten Weltkrieg die Familiengüter in Ostpreußen geleitet und fand dann eine neue Heimat im republikanischen Hamburg, wo sie, seit 1946 bei der gerade gegründeten "Zeit", zur bedeutendsten deutschen Journalistin des 20. Jahrhunderts wurde.

Ein Leben, das nach existenziellen Brüchen klingt – und in Wahrheit doch ein Leben der Konstante war: im Politischen wie im Persönlichen. Die kluge Auswahl von Tagebucheintragungen und Briefen, die Friedrich Dönhoff und Irene Brauche zusammengetragen haben, zeigen beides. Im Dezember 1939 ("Wenn heute unsere Brüder auf dem Felde der Ehre fallen") schreibt sie einen unmissverständlichen Antinazi-Brief an die gleichgeschaltete Deutsche Adels-Genossenschaft – "In dieser Zeit der Entzauberung des Wortes und der Entwertung aller Begriffe".

Als in den Fünfzigerjahren in der "Zeit" Altnazis zunehmend an Einfluss gewinnen, zieht sich die Leiterin des Politik-Ressorts nach London zur Sonntagszeitung "The Observer" zurück – bis sich der liberale "Zeit"-Verleger Gerd Bucerius mit juristischen Mitteln gegen die Widersacher durchsetzt. Als 1979 mit Karl Carstens der erste deutsche Bundespräsident gewählt wird, dessen NSDAP- und SA-Vergangenheit vor seiner Wahl bekannt war, rügt sie – in einem Brief an den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt – den Wissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker, weil der sich von den Sozialdemokraten nicht als Gegenkandidaten von Carstens aufstellen lassen wollte: "erbärmlich", "feige", "arrogant".

Als "Zeit"-Herausgeberin – in einem Alter, in dem sich andere längst in die Rente verabschiedet hätten – beantwortete sie durchschnittlich einhundert Leserbriefe pro Woche, las geduldig Krimi-Entwürfe von 15-jährigen Schülern ("Ab Seite 9 habe ich im Lesen ganz leicht redigiert") oder half Abiturientinnen mit einem Lebensmotto: "Es kommt nicht so sehr auf die Ziele an – hehre Ziele hat schließlich jeder –, sondern darauf, mit welchen Mitteln diese Ziele erreicht werden sollen". Unterzeichnet waren ihre Briefe grundsätzlich mit "Marion Dönhoff". Und, wenn sie an die Freunde schrieb, mit "Alles Liebe Marion". Wie an den schweizerischen Historiker und Diplomaten Carl Jacob Burckhardt. Das Briefeschreiben, teilte sie ihm 1957 mit, helfe ihr, "mir selbst über irgendetwas klar zu werden, worüber ich sonst geneigt bin, hinwegzudenken".

Besprochen von Klaus Pokatzky

Marion Gräfin Dönhoff: "Ein Leben in Briefen".
Herausgegeben von Friedrich Dönhoff und Irene Brauer.
Hoffmann und Campe. 304 Seiten. 20,00 EUR.

Über die Herausgeber:
Friedrich Dönhoff, geboren 1967, ist Großneffe, Irene Brauer, geboren 1944, war 20 Jahre lang enge Mitarbeiterin von Marion Gräfin Dönhoff.
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