Korrespondenz einer Ikone der DDR-Literatur
Die Schriftstellerin Anna Seghers machte sich mit ihren Büchern "Das siebte Kreuz" und "Transit" in der DDR einen Namen. Mit Kollegen wie Günter Kunert, Lew Kopelew oder Heinrich Böll stand sie im Briefwechsel.
Am 17. November 1976 schrieb Anna Seghers als Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes dem Schriftsteller Günter Kunert. Kunert hatte Seghers aufgefordert, sich gegen den Ausschluss ihres Kollegen Rainer Kunze zu stellen, der durch die westdeutsche Veröffentlichung seines Prosabands "Die wunderbaren Jahre" in Ungnade gefallen war. Mit seinem Versuch, Anna Seghers zu einem Einlenken im Fall Kunze zu bewegen, stieß Kunert auf Ablehnung.
Die große alte Dame der DDR-Literatur argumentierte weltpolitisch. Da Kunze nicht gegen den Terror in Pinochets Chile protestiert habe, könne sie sich auch nicht seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband widersetzen. Eine heute schwer verständliche, damals nicht untypische Stellungnahme, konziliant im Ton, doch hart in der Sache und dabei auf falschen Annahmen beruhend, da sich Kunze in Wahrheit sogar in einer Anthologie zur Situation in Chile geäußert hatte.
250 Briefe, verfasst zwischen 1953 und 1983, hat der Aufbau Verlag für den nun veröffentlichten, neuen Band seiner Anna-Seghers-Werkausgabe ausgewählt. Es geht um die drei letzten Lebensjahrzehnte der Schriftstellerin, die 1900 als Netty Reiling in einer bürgerlichen Familie jüdischer Herkunft in Mainz zur Welt gekommen und nach ihren ersten literarischen Erfolgen 1928 zur KPD gestoßen war.
Durch ihre Romane "Das siebte Kreuz" und "Transit" inzwischen auch international viel beachtet, kehrte sie 1947 aus dem mexikanischen Exil zunächst ins westliche Berlin zurück und siedelte von dort bald in den Ostteil der Stadt um, wo sie als Mitglied des Weltfriedensrates, mehrfache Trägerin des Nationalpreises und langjährige Vorsitzende des Schriftstellerverbandes eine Ikone der DDR-Literatur verkörperte.
Mit wem, worüber und in welchem Ton korrespondiert eine freiwillig in den politischen Fesseln des SED-Staats verharrende große Schriftstellerin? Die Briefe an befreundete Schriftsteller, Familienangehörige oder an ihrem Werk interessierte Germanisten offenbaren eine freundliche, aufrichtig am Schicksal des anderen Menschen interessierte Zeitgenossin.
In allen Fragen zu ihrem Werk ist sie stets offen. Freimütig gibt sie Einblick in ihren nicht selten unerfreulichen Seelen- und Gesundheitszustand. Brieffreundschaften pflegt sie gelegentlich auch über politische Gegensätze hinweg, zum Beispiel zu Lew Kopelew, der sich in den 1960er-Jahren vom Protagonisten zum entschiedenen Kritiker des Sowjetregimes wandelt.
Sie unterhält zahlreiche Briefverbindungen in die Bundesrepublik, sei es zu dem Schriftsteller Heinrich Böll, zu Verlegern, zu Vertretern der Stadt Mainz oder zu alten Freundinnen. Zwischen den Zeilen wird in dieser Korrespondenz klar, wie wenig sie mit den autoritären Strukturen des kleinbürgerlichen, nicht selten heimattümelnden ostdeutschen Kulturbetriebs zurechtkam. Dennoch hielt sie die DDR allen Mängeln zum Trotz bis zum Ende ihres Lebens für den besseren Staat und betrachtete ihn – anders als die BRD - als entwicklungsfähig. Dementsprechend findet sich in ihren Briefen kein Wort zum sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 oder zum Bau der Berliner Mauer 1961.
Für die meisten Leser von heute blieben diese Briefe rätselhaft, wäre nicht die Hälfte des Buches der Aufhellung der persönlichen und politischen Hintergründe gewidmet. Durch die umfangreichen Kommentare, Anmerkungen, Querverweise sowie Kurzbiografien der Korrespondenzpartner ist es den Herausgeberinnen gelungen, die keinesfalls unkomplizierte Lage von Anna Seghers in der DDR anhand ihrer Briefe zu dokumentieren.
Besprochen von Martin Sander
Anna Seghers, Tage wie Staubsand, Briefe 1953-1983,
hg. von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke, Werkausgabe V/2,
Aufbau Verlag, 645 Seiten, 42,00 Euro
Die große alte Dame der DDR-Literatur argumentierte weltpolitisch. Da Kunze nicht gegen den Terror in Pinochets Chile protestiert habe, könne sie sich auch nicht seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband widersetzen. Eine heute schwer verständliche, damals nicht untypische Stellungnahme, konziliant im Ton, doch hart in der Sache und dabei auf falschen Annahmen beruhend, da sich Kunze in Wahrheit sogar in einer Anthologie zur Situation in Chile geäußert hatte.
250 Briefe, verfasst zwischen 1953 und 1983, hat der Aufbau Verlag für den nun veröffentlichten, neuen Band seiner Anna-Seghers-Werkausgabe ausgewählt. Es geht um die drei letzten Lebensjahrzehnte der Schriftstellerin, die 1900 als Netty Reiling in einer bürgerlichen Familie jüdischer Herkunft in Mainz zur Welt gekommen und nach ihren ersten literarischen Erfolgen 1928 zur KPD gestoßen war.
Durch ihre Romane "Das siebte Kreuz" und "Transit" inzwischen auch international viel beachtet, kehrte sie 1947 aus dem mexikanischen Exil zunächst ins westliche Berlin zurück und siedelte von dort bald in den Ostteil der Stadt um, wo sie als Mitglied des Weltfriedensrates, mehrfache Trägerin des Nationalpreises und langjährige Vorsitzende des Schriftstellerverbandes eine Ikone der DDR-Literatur verkörperte.
Mit wem, worüber und in welchem Ton korrespondiert eine freiwillig in den politischen Fesseln des SED-Staats verharrende große Schriftstellerin? Die Briefe an befreundete Schriftsteller, Familienangehörige oder an ihrem Werk interessierte Germanisten offenbaren eine freundliche, aufrichtig am Schicksal des anderen Menschen interessierte Zeitgenossin.
In allen Fragen zu ihrem Werk ist sie stets offen. Freimütig gibt sie Einblick in ihren nicht selten unerfreulichen Seelen- und Gesundheitszustand. Brieffreundschaften pflegt sie gelegentlich auch über politische Gegensätze hinweg, zum Beispiel zu Lew Kopelew, der sich in den 1960er-Jahren vom Protagonisten zum entschiedenen Kritiker des Sowjetregimes wandelt.
Sie unterhält zahlreiche Briefverbindungen in die Bundesrepublik, sei es zu dem Schriftsteller Heinrich Böll, zu Verlegern, zu Vertretern der Stadt Mainz oder zu alten Freundinnen. Zwischen den Zeilen wird in dieser Korrespondenz klar, wie wenig sie mit den autoritären Strukturen des kleinbürgerlichen, nicht selten heimattümelnden ostdeutschen Kulturbetriebs zurechtkam. Dennoch hielt sie die DDR allen Mängeln zum Trotz bis zum Ende ihres Lebens für den besseren Staat und betrachtete ihn – anders als die BRD - als entwicklungsfähig. Dementsprechend findet sich in ihren Briefen kein Wort zum sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 oder zum Bau der Berliner Mauer 1961.
Für die meisten Leser von heute blieben diese Briefe rätselhaft, wäre nicht die Hälfte des Buches der Aufhellung der persönlichen und politischen Hintergründe gewidmet. Durch die umfangreichen Kommentare, Anmerkungen, Querverweise sowie Kurzbiografien der Korrespondenzpartner ist es den Herausgeberinnen gelungen, die keinesfalls unkomplizierte Lage von Anna Seghers in der DDR anhand ihrer Briefe zu dokumentieren.
Besprochen von Martin Sander
Anna Seghers, Tage wie Staubsand, Briefe 1953-1983,
hg. von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke, Werkausgabe V/2,
Aufbau Verlag, 645 Seiten, 42,00 Euro