Koranforscher: Mehrheit der Muslime blickt in Vergangenheit zurück

Moderation: Holger Hettinger · 25.11.2005
Der jahrelang von Islamisten verfolgte Koranforscher Nasr Abu Zaid hat den diesjährigen Ibn-Rushd-Preis für Demokratie in der arabischen Welt erhalten. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur erklärt Nasr Abu Zaid, dass die Mehrheit der Muslime die Vergangenheit idealisiere. Doch die frühe Geschichte der Moslems sei eine Geschichte von Kriegen gewesen.
Deutschlandradio Kultur: Glückwunsch zum Ibn-Rushd-Preis für freies Denken 2005, den Sie für Ihren langjährigen Kampf für eine unabhängige Koranforschung bekommen haben. Ihr Anliegen ist es, den Text in den zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen, ihn neu zu interpretieren. Nun gibt es fundamentalistische Kräfte, die genau jene zeitgeschichtlichen Konzepte ausschließen wollen und die Wortwörtlichkeit des Textes betonen. Woraus leitet sich für Sie die Notwendigkeit nach einer Neuinterpretation ab?

Nasr Abu Zaid: Ich bin doppelt motiviert: zum einen als arabischer Bürger, arabischer Weltbürger, der erkannt hat: Die Botschaft des Islam wird manipuliert und instrumentalisiert von politischen Kräften. Zum Zweiten: In der Geschichte der klassischen Interpretation des Koran muss man bedenken, dass diese Interpretationen nie "unschuldig" sind. Sie sind beeinflusst von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen. So wurde mir das Verhältnis bewusst zwischen der Interpretation des Heiligen Textes und den Umständen, unter denen diese Interpretationen entstanden sind. Ich war über diese Manipulationen sehr verärgert, und daher habe ich mich mit der Frage beschäftigt: Welche Methode liegt der Interpretation des Heiligen Textes zugrunde.

Zuvor musste ich mich natürlich damit beschäftigen, was der Heilige Text überhaupt ist, wie Gott zu den Menschen spricht. Und das hat mich zur Analyse geführt: Wie kommunizieren das Göttliche und das Menschliche? Und: Welche Rolle spielt der unmittelbare kulturelle Kontext, in dem der Koran entstanden ist? Ich habe viel gelernt von der modernen Sprachwissenschaft, der Hermeneutik und der Philosophie, und aus dieser Richtung kommt auch meine Neugierde an dieser Frage, die mich nicht nur aus intellektuellem Interesse beschäftigt, sondern auch als Wissenschaftler, der die Bedeutung von Religion ergründen möchte: für die Autorität von Menschen, die Autorität von Gläubigen, und nicht für die Autorität einer Staatsmacht, einer Institution oder einer politischen Position.

Deutschlandradio Kultur: Sie sprechen die Vereinnahmung an, die Manipulation des Koran-Textes durch politisch geleitete Interessen. Nun gibt es ja viele Menschen, die sagen, es ist sehr schwierig, das zurückzudestillieren auf die historischen Wurzeln und es vor allen Dingen gangbar zu machen für eine Moderne. Wo ist denn Im Islam die Trennlinie zwischen dem Festhalten an der Tradition und dem Aufbruch?

Nasr Abu Zaid: Ich denke, wir müssen die klassische Tradition so verstehen, dass es hier eine Tradition gibt, die von Menschen begründet wurde, das ist so zu sagen das historisch-kritische Eingehen auf Tradition. Ich habe mich sehr mit dieser historischen Analyse der Tradition beschäftigt. Wir müssen mit dieser Tradition nun aktiv umgehen: und zwar nicht, indem wir sie nachmachen, sondern indem wir auf sie aufbauen. Tradition soll keine Belastung für unsere Kinder sein, sondern ein Schritt voran in unserem Denkprozess. Wir leben in modernen Zeiten und sehen uns mit Fragen konfrontiert, die bei unseren Vorgängern nie aufgetaucht sind – Gleichheit, Menschenrechte, Gleichstellung von Mann und Frau, das harmonische Zusammenleben mit anderen Kulturen, das sind die Fragen unsere Zeit.

Wir müssen von unseren Vorfahren lernen, aber wir sollten uns davor hüten, deren Antworten 1:1 als unsere zu übernehmen. Deswegen, glaube ich an Hermeneutik, die sich dieser Tradition kritisch stellt und die die Gegenwart nicht ausschließt, denn nur so kann der Koran Antworten auf Fragen unserer heutigen Zeit bieten. Die wiederum sind aber keine definitive Antworten, sondern nur Momentaufnahmen, da unsere Antworten in der Zukunft auch zur Tradition werden, so wird Tradition modernisiert, von der Vergangenheit in die Gegenwart überbracht, und so werden neue Traditionen hergestellt, die auch in der Zukunft kritisch angesehen werden. Das ist die Hermeneutik unserer Existenz.

Deutschlandradio Kultur: Der Islam als eine Religion, die Antworten gibt auf Fragen der Gegenwart, auf Lebenswelten, die den modernen, meinetwegen auch den westlichen Menschen betreffen. Viele Menschen betrachten ja den Islam als Religion, der sich ausschließlich in der Vergangenheit bewegt, der nicht in der westlichen Welt, in der modernen westlichen Welt, angekommen ist.

Nasr Abu Zaid: Das stimmt, auf der einen Seite. Die meisten Moslems schauen in die Vergangenheit zurück, zum Beispiel, Ausbildung in der moslemischen Welt ist keine Anleitung zum kritischen Bewusstsein, Religion wird beigebracht, wird gepredigt, und wir müssen über diese Problematik nachdenken. Die modernen Fragen sind Fragen, die Moslems in ihrem heutigen Alltag erleben, sie müssen sich mit diesen Frage auseinander setzen, im Unterschied mit unseren Vorfahren, die unter ganz anderen Umständen gelebt haben. Ein starrer Rückblick in die Vergangenheit und ein striktes Festhalten an althergebrachten Regeln wird vom Koran sogar verurteilt. Der Prophet Mohammed ist gekommen, um die Gewohnheiten der Vorfahren zu ändern, und wenn Muslime den Koran richtig lesen, werden sie verstehen, dass der Koran das bloße Nachpauken ablehnt; im Gegenteil: Der Koran fordert ausdrücklich dazu auf, frische Ideen zu finden und ihre Fragen aus ihrem Blickwinkel zu stellen. Aber ich stimme zu, die Mehrheit der Muslime schaut in die Vergangenheit zurück.

Ihre Verzweiflung über die heutige Situation führt dazu, dass sie die Vergangenheit idealisieren und sie denken, wenn wir zur Vergangenheit zurückkehren, in eine vermutete Gesellschaft der goldenen Ära, können wir alle Probleme lösen. Aber diese ideale Ära hat nie existiert, sie ist pures Wunschdenken! Ehrlich gesagt: Wir wissen sehr wenig von der Vergangenheit. Und: Die Vergangenheit war nicht ideal. Die frühe Geschichte der Moslems ist eine Geschichte von Kriegen. Drei der vier frühen Kalifen wurden umgebracht, die Geschichte des Islams ist eine Geschichte der Menschen, nicht eine Geschichte von Engeln oder Teufeln. Also es gibt nichts in der Vergangenheit, was wir uns zum Beispiel nehmen sollen. Zweitens wird Islam im modernen Kontext auf die Sharia reduziert. Den Islam nur auf das Gesetz zu begrenzen, bedeutet, dass viele Dimensionen der Religion ausgeschlossen wurden. Das Gesetz wurde in einem bestimmten Zeitraum formuliert, und es ist ganz Kind dieser Zeit. Unsere Zeit aber braucht ein modernes Gesetzt, nicht eines, das im Mittelalter oder im 10. oder 12. Jahrhundert gegolten hat. Manche Leute sprechen von der Sharia als wäre dies genau so wichtig wie der Islam.

Deutschlandradio Kultur: Also ein Islam, der quasi die Pflicht zur Erneuerung in sich trägt. Es gibt ja viele Menschen, die sagen: Manche Sachen haben einfach keinen Interpretationsspielraum. Und daraus schöpfen die Fundamentalisten Nahrung für ihre Thesen - zum Beispiel Dinge wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, die ja wesensfremd zu sein scheint im Koran.

Nasr Abu Zaid: Das stimmt, wenn man den Koran als das Wort Gottes wortwörtlich nimmt. Angenommen, Gott hätte jedes Wort des Korans gesprochen - dann hätte man keine Wahl. Aber wenn man den Koran im historischen Kontext liest, entdeckt man mehrere komplizierte Dimensionen darin. Gott hat mit den Menschen, mit Mohammed, kommuniziert. Bei dieser Kommunikation, können wir uns nicht vorstellen, dass Gott seine eigene Sprache gesprochen hat aber er musste mit Menschen in einer menschlichen Sprache kommunizieren. Menschliche Sprache ist voll mit ihrer eigenen Kultur, und zwar mit allen Konzepten und Bedeutungen von Kultur. Und deswegen müssen wir nach den Auswirkungen der Kultur des 7. Jahrhunderts auf der Sprache des Korans nachschauen. Und deswegen müssen wir uns den Kontext des 7. Jahrhunderts anschauen und jeder Koranwissenschaftler versteht, dass die Richtung des Korans hat sich von Mekka nach Medina geändert.

In Mekka war der Islam quasi eine Wiedergeburt, Moslems waren eine Minderheit und wurden ständig verfolgt, deswegen mussten sie die Toleranz und das Zusammenleben wie im Koran vorgeschrieben erleben. Aber wenn Moslems eine stabile Gesellschaft hergestellt hatten, und diese Gesellschaft ist mit anderen Gesellschaften in Konflikt gekommen: Dann konnte man erwarten, dass der Gott des Korans auf der Seite der Moslems stehen würde. Das ist auch der Grund dafür, warum die Sprache stellenweise so drastisch ist. Man muss sich das so vorstellen: Die Muslime haben ihre eigene Verwandtschaft bekämpft, es war nicht wir Amerikaner gegen Moslems, das war der gleiche Volkstamm, deswegen musste der Koran sehr überzeugend sein, und die kraftmeierisch wirkende Sprache soll in diesem Kontext verstanden werden – und das heißt nicht, dass wir alle Nicht-Moslems überall in der Welt umbringen sollen. Zum Beispiel, als der Islam gesiegt hat, und Mohammed zurück nach Mekka gekehrt ist, hat er alle nicht umgebracht, es gibt kein Beweis dafür, dass Moslems in irgendeines anderes Land gereist sind, und alle getötet haben, Moslems waren damals weiser als Leute heutzutage. Wenn man nach Ägypten geht, und alle da tötet, wer kann nachher dann regieren oder wirtschaftlich arbeiten? Wir müssen verstehen, dass die frühe Moslems haben diese Sätze, die für uns wirklich starker Tobak sind, in ihrem eigenen Kontext verstanden – sie haben sie nicht wörtlich genommen.